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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und die höchsten Erfolge menschlicher Gesetzerfüllung sind, so ehrenwerth sie, menschlich angeschaut, sein mögen, unvollkommen. Es können andere diese Unvollkommenheit entdecken und das eigne Herz, wofern es nicht in Sicherheit und Hochmuth eingewiegt ist, wird daher niemals durch die eigenen Werke zufriedengestellt. Eine Unruhe, ein heimliches, oft auch ein nicht zu verheimlichendes Nagen der Unzufriedenheit läßt sich nicht unterdrücken. Dazu kommen unbewachte, schwache Stunden, oder aber gewaltige Angriffe des Bösen. Da unterliegt man und wird im Herzen zerbrochen, mit Schaam und Schande offenbarer Sünden überdeckt. Wie viele äußerlich ehrbare Menschen wüßtest du zu nennen, die nie zu Schanden geworden? Vielleicht wenige, vielleicht keinen! Denn nicht jede Sünde, die augenfällig ist, ist gegenwärtigen Augen ausgesetzt. Viel grobe Sünden schleichen im Dunkeln und verklagen vor Gott auch Diejenigen, welche vor Menschen nie zu Schanden wurden. Sehen wir nun gar auf die innere Vollkommenheit, welche das Gesetz gebietet, auf die Liebe, die Königin aller guten Werke, auf die Demuth und Sanftmuth und Langmuth, auf die Reinigkeit und Keuschheit der Seele, auf Muth und Standhaftigkeit u. s. w.: wer könnte, wer dürfte behaupten, daß jemals einer durch viel Predigen des Gesetzes zu einer dieser Tugenden gekommen sei? Lüderliches, rohes Volk, das Natur und Gnade nicht unterscheiden kann und will, das für Vollkommenheit und Unvollkommenheit kein Auge hat, kann sich allenfalls in frevlem, lügenhaftem Uebermuthe dies und jenes zuschreiben, aber wahr ist der Ruhm nicht. Aufrichtige Menschen, denen es ein Ernst ist mit der Tugend, die Gottes vorlaufende Gnade, sie zu ermüden, in die Werke treibt, sprechen und bekennen ganz anders. Sie rühmen sich nicht, sie sehen nichts Preiswürdiges in ihrem Herzen und Leben. Das Gegentheil erkennen sie mit Schrecken; allüberall Ueberfluß böser Eigenschaften, nirgends Gutes. Auch hilft ihnen lange fortgesetzte Bemühung nicht weiter. Die Erfahrung eigener Bosheit wird reifer, aber Gutes will nach fünfundzwanzig Jahren der Arbeit eben so wenig auf dem Boden des eigenen Herzens wachsen, als vor fünfundzwanzig Jahren. Je zarter das Herz, desto beschwerter wird es durch solche Kenntnis seiner selbst. Es kann Anfechtung über Anfechtung kommen, es kann da je länger, je mehr zur Wahrscheinlichkeit werden, daß man verloren sei. Und was das für ein Seelenjammer sei, das ermisst nur der, der es erlebt hat. Da lernt man erkennen, was es heiße: „Das Gesetz richtet Zorn an,“ da sieht man Zorn mit Zorn sich mehren − und der Fluch Gottes drückt schwer, − das ist die Wirkung des Gesetzes. Und zwar ist hier Gesetz zugleich ein Name für alles, was man Moral und Sittenlehre des unbekehrten Menschen nennt. Alle Moralpredigt hilft nicht, sondern Zorn, Unruhe über den Zorn, nagendes Gewißen bereitet sie. − Und woher das alles? Ist doch Gesetz und Moral etwas Gutes? − Ja wohl, ist das Gesetz gut, heilig und rein. Aber es fordert, es ist Gottes Schuldenforderer, es fordert, wo nichts ist, − wie kann man zahlen? Es fordert hohe Dinge, es fordert Liebe, − aber wie kann man Trauben lesen von Dornen? Das Herz ist böse, wie soll Gutes aus ihm kommen? Wir haben nichts Gutes − wir müßen alle mit St. Paulo bekennen: „Da ist nicht, der Gutes thue, auch nicht einer“ − und „ich weiß, daß in mir, d. i. in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes.“ Wir müßen alle singen:

„Vom Fleisch wollt nicht heraus der Geist,
Vom Gsetz erfordert allermeist;
Er war mit uns verloren.“

 Ja, wenn das Gesetz den Geist und die Kraft zu dem hätte und gäbe, was es fordert, dann wäre es etwas anderes. Aber da fehlt es. St. Paulus fragt Gal. 3, 2. die Galater und alle Christen: „Das will ich von euch lernen, habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Werke, oder durch die Predigt vom Glauben? − Der euch den Geist reichet und thut solche Thaten unter euch, thut ers durch des Gesetzes Werk oder durch die Predigt vom Glauben?“ (V. 5.) Welcher Galater, welcher Christenmensch, welcher Mensch, der sich erkannt hat, könnte hierauf antworten: „Durch des Gesetzes Predigt?“ Alle müßen sie sagen, daß das Gesetz sie ausgezogen, sie aller Zier entkleidet und in aller Schande und Blöße dargestellt hat, alle müßen sie bekennen: „Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben.“ 2, 19. Das Gesetz stellt uns Tugenden auf, die wir nicht vermögen, − zeigt uns unsre Sünden, die wir nicht ertragen und eben so wenig ablegen können; es hilft unsern sehnenden Seelen zu keinem kräftigen Wollen, geschweige zum Vollbringen des Guten, es läßt uns hungrig, durstig, arm, bloß und hilflos stehen, nachdem wir alles das

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/452&oldid=- (Version vom 24.7.2016)