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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wendet Er Sich zum Kranken und spricht Sein hilfreiches: Steh auf, hebe dein Bette auf und gehe heim! − auf daß Seine Feinde inne würden, daß des Menschen Sohn Macht habe, auf Erden die Sünde zu vergeben. Der Kranke gieng heim, und die Menge preisete Gott, der solche Macht dem Menschen JEsus gegeben hatte. Genesung und Vergebung, die sind in unserm Evangelium gegeneinander gehalten und werden gegeneinander abgewogen. Das ist wichtig für uns, wie für die Zeit JEsu, es ist wichtig für Zeit und Ewigkeit. Ich schlag euch deshalb vor, meine lieben Brüder, heute die folgenden Fragen zu erwägen:

 Der HErr leite uns, daß wir eine jede Frage richtig, eine jede nach Würden beantworten.

 Unsre erste Frage ist ganz die Frage JEsu an Seine Feinde: Was ist leichter zu sagen: dir sind deine Sünden vergeben − oder zu sagen: Steh auf und wandele? Wißen wir, welches von beiden leichter ist, so wißen wir auch was schwerer, was größer, was herrlicher ist. Die Frage JEsu: „Was ist leichter zu sagen“ − handelt, versteht sich, nicht von einem bloßen Sagen und Wortgepränge, sondern von einem erfolgreichen Sagen, so daß man spricht und die Sünde oder Krankheit verschwindet, so daß man gebeut, und Leben des Leibes, Frieden der Seele sind da. Von einem gebietenden Wort, einem gewaltigen Machtwort über Krankheit und Sünde ist die Rede. Wenn man es so nimmt, meine Freunde, was urtheilt ihr dann? Ist es leichter, Krankheiten oder Sünden den Befehl zu geben, von dem Menschen zu weichen? Vielleicht kommt euch die Größe der Krankheit, vielleicht die Größe der Sünde überwiegend vor, vielleicht wird es euch schwer zu entscheiden. Wir wollen uns aber nicht lange besinnen, sondern bedenken, daß kein Mensch, kein Engel, keine Creatur durch ein bloßes Wort, durch eine einfache Erklärung bloßer Willensmeinung irgend etwas ändern kann. Gebeut dem Staub, der im Sonnenstrahl taumelt, und sieh, ob er dir gehorcht. Laß alle Könige der Erde ihre Macht vereinen, laß sie alle zusammen einen Machtspruch über den taumelnden Staub thun: was wirds sein? Laß alle Teufel, laß alle Engel zusammentreten, sie sollen alle zumal das Stäublein anherrschen: auf ihr Wollen und Sprechen achtet dieß kleine Pünktlein nicht, sondern es steigt ab und steigt auf seine stille Bahn, wie es sich füget. Wenn aber der Staub nicht folgt, wie du es gerne hättest, wie wird dir die Krankheit und die Sündenschuld folgen? Des Leibes Weh, der Seelen Last − beide liegen, wenn du sie hast, auf dir; es hilft dir von beiden kein menschliches Sagen. Ueber beide gebeut allein der allmächtige Wille, dem aber ist eines wie das andere. Die Sünde ist eine größere Last, als die Krankheit, aber leichter, schwerer − das sind Eigenschaften der Geschöpfe, die für den Schöpfer und Erlöser nicht da sind. Er thut eines und das andere in tiefster Ruhe, ohne Anstrengung und Erschöpfung − und wenn du deshalb mit Hinblick auf Ihn, der es alleine kann, die Frage thust: „Was ist leichter, was schwerer, was größer, was kleiner?“ so ist die Antwort: „Nichts ist leichter, nichts schwerer, nichts größer, nichts kleiner; zu beidem gehört Allmacht; wer die hat, der thut beides; wer die nicht hat, thut nichts.“ − Vollkommen richtig beweist daher der HErr Seine Macht über die unsichtbare Sündenschuld durch die Machterweisung über die Krankheit und besigelt im Gewißen des Gichtbrüchigen die Vergebung durch Heilung. Und wenn die Pharisäer nicht gewesen wären, die sie waren, so hätten sie nun den HErrn anders angesehen und erkannt die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater und hätten Gott im Fleische angebetet. Gelobet sei der, der Leib und Seele in Seiner Macht hat, Leib und Seele im Auge behält und für beide sorgt, wie Er sie beide geschaffen hat. In allen Leibes-, in allen Seelennöthen sei unser Gebet und Flehen mit Danksagung zu Ihm gerichtet, und Sein heiliges, heilsames, allmächtiges Wort schalte und walte über alles, was wir sind und haben, in Ewigkeit! Seiner Macht ist nicht zu entrinnen, und wer sollte Dir entrinnen wollen, allmächtiger HErr JEsu Christe, der Du alle Deine Macht zu unserm Heil anwendest?


 Eine andere Frage ist die: Was ist dem Menschen, so wie er ist. d. i. dem Sünder nöthiger:

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/456&oldid=- (Version vom 24.7.2016)