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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Vermahnung zur Versöhnlichkeit, so oft sie komme, immer und immer wieder rechtzeitig und am rechten Orte, und man darf sogar behaupten, zu dieser Tugend dürfe man noch viel öfter, als zu anderen Tugenden ermahnen, weil sie eine besonders schöne und eben deshalb auch eine besonders schwere Tugend ist. Darum kehrt auch die Ermahnung zur Versöhnlichkeit in so manchem Sonntagsevangelium des Kirchenjahrs wieder, darum redet überhaupt die heilige Schrift so oft von ihr, darum handelt sogar eine von den sieben großen und stehenden Bitten des Vaterunsers von ihr. Denn man darf doch wohl sagen, daß der Befehl zu beten: „Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ zugleich eine starke mächtige Empfehlung der Versöhnlichkeit und eine starke Vermahnung zu ihr sei. − Was insonderheit unsere Gemeinde anlangt, so bin ich überzeugt, daß keine Gelegenheit, zur Versöhnlichkeit zu ermuntern, unbenutzt vorbeigelaßen werden darf. Ihr werdet mir darin wohl auch alle beistimmen. Denn wahrlich, es vergeht kein Tag, an welchem nicht bei einem oder dem andern unter uns Noth und Jammer bloß deshalb entsteht, weil Versöhnlichkeit mangelt. So will ich denn getrost dem HErrn im Evangelium folgen und weil der HErr wieder vermahnt, in möglichster Einfalt gleichfalls vermahnen. Nehmet, geliebte Brüder, mein treugemeintes Wort mit dem Gehorsam auf, den ihr mir, so lang ich am Worte Gottes bleibe, schuldig seid!

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 Was das Wesen der Versöhnlichkeit anlangt, so können wir es mit wenigen Worten bezeichnen, und fast halte ich es für ganz unnöthig, eine Erklärung desselben zu geben, weil der Name so allbekannt ist und so verständlich an jedes Herz spricht. Was ist Versöhnlichkeit anders, als Lust und Neigung zum Verzeihen, ein Herz, das keinen Hader verträgt, das dem billig oder unbillig Zürnenden gerne zuvorkommt, zuerst die Hand reicht, nach Lieb und Einigkeit hungrig und durstig ist. Sehet in unsern Text, er lehrt euch in einem großen Beispiel Versöhnlichkeit, in einem großen Beispiel, was Unversöhnlichkeit sei. Versöhnlich ist der König, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Denn siehe, es kommt ihm einer seiner Knechte vor, der ihm zehntausend Pfund schuldig ist, eine Summe, so groß und unerschwinglich, daß an ein Abzahlen für den nicht zu denken ist, der sie schuldet! sie beträgt mindestens vierundzwanzig Millionen Gulden. Die Summe ist für unsere Zeiten ungeheuer, und ist es um so mehr für die Zeiten Christi gewesen; der HErr hat mit aller Absicht eine Summe benannt, die damals nicht leicht jemand schuldig war, um den Gegensatz gegen die andere kleine Schuld, von der die Rede sein wird, desto mehr hervorzuheben und Tugend und Laster in vollester Größe neben einander stellen zu können. Wenn jemand so verschuldet wäre, Brüder, wie meint ihr, sollte der noch rechnen wollen? Rechnen wollen, wo man bittend aufs Angesicht sinken, wo man lautlos verstummen sollte, halte ich für ein solches Maß von Frechheit, der gegenüber das im Evangelium gedrohte Maß der Strafe, so groß es an sich ist, dennoch gar nicht hoch anzuschlagen ist. Denn wenn einer selbst mit Weib und Kindern und aller Habe verkauft würde, so wäre doch der Erlös aus allem gegen die veruntreute Summe gering. Dennoch sieh den milden, frommen König! Der Schuldner fällt nieder und spricht die thörichtste aller Bitten, die je von eines Menschen Lippen kam; statt sich ein für allemal, für jetzt und immer zahlungsunfähig zu erklären, bittet er um Frist und Geduld und verspricht alles zu zahlen. Er hat doch verschleudert, was er schuldig ist: weiß er nicht, was er verschleudert hat, dieser König aller leichtsinnigen Kinder und Schuldner der Welt? Fällt ihm gar nicht ein, wie rein unmöglich es ist, zu erstatten? Ein Ungeheuer von Bettelstolz ist doch der zu nennen, der sich die unmögliche Leistung zutraut! Und was thut der König? Er weiß, daß es nichts ist mit diesen Versprechungen, er wird von der Armseligkeit des Menschen in der Seele und im Herzensgrund erfaßt, die Erbärmlichkeit seines Zustandes rührt ihn; er läßt ihn los und die Schuld erläßt er ihm auch. Was für ein König, der das konnte, was für ein Herz, welches das wollte! Hier ist eine Versöhnlichkeit, wie sie nur JEsus malen konnte, die auch nimmermehr wird übertroffen werden als alleine von der Versöhnlichkeit Gottes, dem wir armen Sünder allzumal zahl- und namenlose Summen schulden, der aber lieber Mensch wird, um als Mensch für uns göttlich zu zahlen, ehe er uns in unserer unrettbaren Zahlungsunfähigkeit verloren gehen ließe. − Und nun gegenüber dieser Versöhnlichkeit das Beispiel von Unversöhnlichkeit, welches derselbe Knecht gibt, dem die ungeheure Schuld erlaßen war. Er geht hinaus von dem Könige, man sollte denken wie neugeboren und

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/472&oldid=- (Version vom 31.7.2016)