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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

durch große Güte umgewandelt, mild und gütig geworden. Aber nicht also, ihn beugt seines HErrn Gnade nicht; was ihn preßt, ist die Armuth, die ihm übrig bleibt, da er ja freilich nur zehntausend Pfund geschenkt bekommen hatte, die nicht mehr da waren, und er einer Zukunft voll Noth und Trübsal entgegengieng. Nicht die dankbare Erwägung seiner jüngsten Vergangenheit, sondern seine nächste Zukunft und deren Sorgen beschäftigen seine Seele. Da begegnet ihm ein Mitknecht, der ihm schuldet, − nur hundert Groschen, eine kleine Summe nach unserm Gelde, etwa fünfzehn Thaler, des Nennens nicht werth, wenn man so eben Millionen geschenkt bekam. Den Mitknecht fällt er an, würgt ihn, schreit ihm zu: „Bezahle mir, was du mir schuldig bist!“ Der arme Mitknecht fällt nieder und bittet ihn fußfällig um Geduld, um eine Geduld, welche ihm um so leichter zu gewähren war, da es ja wirklich auch für geringe Mittel ein Kleines ist, in kurzer Zeit hundert solche Groschen zu zahlen. Aber da gab es kein Erbarmen, der Schuldner mußte ins Schuldgefängnis wandern, bis die Bezahlung geleistet war. Hundert Groschen, die ihm gehören, machen den Schalksknecht wüthend und voll Grimms, und zehntausend Pfund, die vor wenigen Minuten oder Stunden noch auf seinem Gewißen lagen, konnten ihn nicht lehren, wie es einem armen Schuldner ist, ihn nicht zu Güte und Mitleid stimmen!

 Ich denke, wir sind nun genug und übergenug erinnert, was Versöhnlichkeit und Unversöhnlichkeit ist! Und nicht wahr, Versöhnlichkeit ist schön und hehr, Unversöhnlichkeit aber häßlich und abscheulich! Der König erinnert an Gott im Himmel, der Schalksknecht an die Hölle! So ist es, aber vergiß in allen solchen Fällen niemals die Anwendung auf dich, blick hinein in dein Herz und zurück in dein Leben. Wem bist du ähnlicher, dem Könige oder dem Schalksknecht? Was sagt dir dein Gewißen? Wirst du der Buße nicht bedürfen? − Ich denke, Brüder, wir heben die Hand auf mit dem öffentlichen Sünder, schlagen an unsere Brust, sprechen bekennend: „Meine Schuld, meine Schuld!“ und „Gott sei uns Sündern gnädig!“


 Da nun die Versöhnlichkeit so schön ist und die Unversöhnlichkeit so häßlich, so muß uns doch viel darauf ankommen, die erstere zu erlangen. Von Natur hat niemand ein versöhnliches, friedliches Herz. Denn wenn es auch manche gibt, welche von Natur langsamer zum Zorn sind, als andere; so ist diese natürliche Langsamkeit, wie alles, was von Natur vorhanden ist, doch keine Tugend, weil sie nicht vom Geiste Gottes stammt, sondern vom Fleisch − und dann ist sie an dem Maßstabe jener Güte gemeßen, die siebenmalsiebzigmal vergibt, dennoch bei weitem zu kurz und zu klein. Das Fleisch ist fern vom Geist und deshalb auch fern von wahrer Geduld. Bei sehr vielen, ja bei den meisten Menschen ist überdies auch von natürlicher Geduld und Langmuth gar keine Rede. Die meisten sind über die Maßen empfindlich, leicht verstimmt, schnell zum Zorn, aufbrausend, halten Zorn und Grimm, kommen aus diesem traurigen Vorhof der Hölle Jahr aus Jahr ein nicht hinaus, sondern bleiben sich immer gleich wie an Bosheit, so an Qual. Es fragt sich nun bloß, ob man so, wie man von Natur ist, bleiben müße, oder ob man auch anders werden könne? Die Antwort ist leicht gefunden: man kann anders werden, denn es gibt ja, Gott Lob, geduldige, versöhnliche Menschen, welche mit starker Kraft dem siebenmalsiebzigmal nachjagen und in dem Frieden Gottes so fest wohnen, daß, was auch an ihnen rüttele, sie kaum eine kleine Zeit von ihrem stillen Wohnsitz aufschrecken oder gar vertreiben kann. Diese Menschen heißen Christen. Sie muß man fragen, wie sie aus Zornigen zu Sanftmüthigen, aus Rachgierigen zu Versöhnlichen geworden sind. Haben sie mit hellen Sinnen und erleuchtetem Gemüthe den Weg ihrer Veränderung vollbracht, so werden sie gewis die Antwort in Uebereinstimmung mit der heiligen Lehre und unserem Texte geben.

 Wollt ihr, meine Freunde, die Antwort, so nehmt sie hin. Wer Vergebung seiner Sünden von Gott empfangen hat, der vergibt auch wieder; wer keine Vergebung von Gott empfangen hat, der vergibt auch nicht, sondern bleibt, was er ist, ein unversöhnlicher Mensch. Nur wem die Liebe Gottes zu den Sündern ins Herz gegeben und offenbart ist, der kann auch wieder seinen Bruder lieben, sonst keiner. Wie du erfährst, so thust du; ohne Erfahrung göttlichen Erbarmens hast du kein wahres Erbarmen. − Ich hoffe, es wird mir auf diese meine kurze und ich achte, gute Antwort niemand die Einwendung bringen, es sei manchem die Sünde schon so

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/473&oldid=- (Version vom 31.7.2016)