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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Todes das Auge schließt, das Niemand wieder öffnen kann, als Einer, der da gelobt sei immer und ewiglich. Das heutige Evangelium redet von dem Ende Jerusalems und von den Gefahren der letzten Stunde, welche mit Jerusalems Fall über den Kreiß der Erde hereinbricht. Jerusalem steht am Eingang dieser Zeit als eine warnende, lodernde Feuersäule, und wer sie siehet, soll bedenken, daß wir hier auf Erden keine bleibende Stadt haben, sondern die zukünftige suchen sollen, daß alles Irdische, daß alle Herrlichkeit der Welt fürs Feuer gespart und der Tag des Endes aller Dinge schon angeschrieben ist!


 Folgen wir unserm Texte, denken wir ihm nach! Er beginnt mit einer Hinweisung auf den Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte, welcher schon von Daniel geweißagt war. Ich weiß, meine Freunde, daß die Ausleger nicht einig darüber sind, was man unter der heiligen Stätte, nicht einig darüber, was man unter dem Greuel der Verwüstung zu verstehen habe. Die einen erkennen in der heiligen Stätte Jerusalem, die andern einen engern Kreiß der heiligen Stadt, den Tempelraum. Unter dem Greuel an heiliger Stätte verstehen jene die heranziehenden, verwüstenden Heere der Römer, diese aber die allerdings abscheulichen Greuel, welche zum Theil schon vor dem Herannahen der römischen Heere im Tempel verübt worden waren, und zwar durch die Juden selber, welche ihn eingenommen hatten und als Veste benützten. Mir scheint allerdings die heilige Stätte nichts anderes zu sein, als der Tempel, und wenn das, was die Juden selbst im Tempel anrichteten, nicht Greuel der Verwüstung waren, so will ich gern zugeben, daß ich auch nicht wiße, was ich mir dann unter einem Greuel der Verwüstung zu denken habe. Ueberhaupt aber, meine Freunde, wird die Auslegung des Greuels, wenn sie ja schwer sein soll, nicht dadurch schwer, daß man keinen der Weißagung Christi entsprechenden Greuel findet, sondern dadurch, daß man allenfalls nicht weiß, welchen unter so vielen Greueln man für den halten soll, den Christus im Auge hatte. Es brauste damals in Jerusalem ein Meer von Greueln der Verwüstung, und die Wellen schlugen einmal um das andere auch in den Tempel hinein, − und so verlegen die Ausleger zu sein pflegen, wenn sie an diese Stelle in Matthäus kommen, die Zeitgenoßen der Zerstörung, für welche der HErr weißagte, waren es gewis nicht. Sie sahens mit Augen und griffen es mit Händen, was Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte waren.


 Diese kenntlichen Greuel der Verwüstung sollten für alle, die Christi Worte hörten, Zeichen zu unverweilter Flucht aus Jerusalem und seiner Umgebung sein, und alle Bewohner des jüdischen Landes sollten dann, um nur das nackte Leben davon zu bringen, von hinnen eilen, an Habe und Kleid nicht denken. Der Mensch ist verzüglich, und so lang er das drohende Schwert nicht über dem Haupte sieht, denkt er nicht an Rettung des Lebens allein, sondern auch seines Glückes. Daher war der HErr in Seinen Ermahnungen zur Flucht so dringend. Und mit einer so sichern Gewisheit sieht Er die Nothwendigkeit der Flucht vorher, daß Er schon zum voraus den Schwangern und Säugern jener Zeit ein jammerndes Wehe zuruft, wenn sie fliehen sollen und unter ihren Bürden schwere Flucht haben werden; daß Er diese Flucht und die Zeit, zu welcher sie geschehen soll, zu einem Gegenstande des Gebets und der Fürbitte gemacht haben will. „Bittet,“ spricht Er, „daß eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbath,“ denn am Sabbath und im Winter fliehen sollen, ist beides mislich. Liebreiche Vermahnungen des HErrn JEsus! Ja wohl liebreiche Vermahnungen, die aber, als es Zeit war, von wenigen beachtet wurden. Statt aus Judäa und Jerusalem zu fliehen, als die Greuel der Verwüstung an der heiligen Stätte zu schauen waren, strömten die Juden vielmehr zu Tausenden am Orte der Greuel zusammen, halfen den Greuel mehren, und machten sich eines namenlosen Elends theilhaft, eines Elends und einer Trübsal, als nicht gewesen ist bis dahin und bis hieher, als auch nicht werden wird, wie Der gesprochen hat, Des Mund nicht lügt. Wenn das Gras dick wird, ist es gut mähen und die Sense fährt desto lustiger hinein! So war’s in Jerusalem, zur Zeit der Flucht thörichte Sammlung, auf daß der Würgengel desto schneller und auffallender Gottes Urtheil vollziehen könnte!

 Freunde, wenn die heiligen Stätten nicht mehr geehrt werden, wenn Greuel der Verwüstung zu sehen

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/486&oldid=- (Version vom 31.7.2016)