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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die Mutter des HErrn selbst. Sie, welche der Kirche des HErrn ein leuchtendes Beispiel in vielen Dingen ist, gibt uns vornemlich ein herrliches Beispiel in Aufnahme des Wortes. Sie verwunderte sich nicht bloß, sondern sie behielt alle Worte der Hirten und bewegte sie in ihrem Herzen. Sie behielt die Worte, also hatte sie dieselben gefaßt. Und wer in der ganzen Welt, wer unter allen Menschen, die je lebten oder leben, war oder ist im Stande, das Wunder, welches die Hirten sahen, so zu faßen, wie Maria, deren eigenen Erlebnissen es so sehr entsprach?! Sie faßte die Worte der Hirten beßer, als diese selber, und sie behielt sie alle. Was den Menschen nahe angeht, das behält er, auch wenn es nicht von bedeutender Wichtigkeit wäre: und Maria hätte das nicht zu unvergänglichem Gedächtnis in die Seele faßen sollen? Aus wessen Munde wohl erzählt uns St. Lucas die Geschichten von der Kindheit Jesu? Wer war am Ende das menschliche Organ, durch welches der heilige Geist Seiner Kirche jene heiligen Geschichten erhielt und mittheilte; durch wen konnte Er es beßer als durch sie, von der er selbst zu zweien Malen bezeuget hat (V. 19, 51.), daß sie dieselben behalten habe?! Aus ihrem treuen, heiligen, mütterlichen Gedächtnis, aus ihrem wahrhaftigen Munde kommt uns wol die selige Kunde, welche der Geist des HErrn mit himmlischen Kräften auf unsre Seele wirken läßt, und wenn wir die ersten Capitel St. Lucä lesen, so ist es, als säßen wir mit den heiligen Aposteln und Evangelisten, ja mit der ganzen Kirche zu Marien Füßen und vernähmen die lieblichsten aller Geschichten aus dem Munde, der davon unter allen die holdseligsten Worte sprechen konnte. − Maria behielt aber nicht bloß alle Worte, welche die Hirten sprachen, sondern bewegte sie auch in ihrem Herzen. Es war kein todtes, kein ruhendes Gut, was sie aus dem Munde der Hirten empfieng, − es lebte und blühte in ihr, und ihre hocherfreute, betende Seele betrachtete sie ohne Zweifel als immer jungen Stoff zur Andacht, als eine Quelle dauernder Freuden. Ja, bei ihr, meine Brüder, wird aus der Bewegung der Worte die Freude entsprungen sein, welche nach des Engels Worten allem Volke zu Theil werden sollte. Zwar wurde Maria schon durch die Geburt an jene Engelworte, die sie selbst vernommen, und an die wonnevolle Weißagung Elisabeths, ihrer Gefreundtin, erinnert, − und wer kann sagen, welch eine Freudenstunde die Geburtsstunde für sie gewesen ist, noch ehe die Hirten kamen! Als nun aber die Hirten kamen, als sie von ihnen die Theilnahme, die Predigt, den Lobgesang der himmlischen Heerschaaren vernahm, da wird es erst recht klar und hell in ihr geworden sein, und je länger sie die Worte der Hirten bewegte, einen desto schöneren Himmelsglanz wird ihr Geist über den Neugebornen und um ihn her ausgegoßen gesehen haben. Mit großen Hoffnungen wird sie in die Zukunft ihres hochgelobten Sohnes gesehen und zuversichtlich erwartet haben, daß einem solchen Eingang in die Zeit ein nicht geringerer Fortgang und Ausgang folgen und am Ende eine Herrlichkeit erscheinen würde, von welcher nur ein Pfand und Anfang war, was beide Maria und die Hirten erlebt hatten.

 Zwar wird uns nur von Maria ein so herrlicher Erfolg der Hirtenpredigt erzählt. Aber der Glaube Einer Maria ist auch hinreichend, die Hirtenpredigt zu bestätigen und zu besiegeln, mehr als die Verwunderung von Tausenden sammt der mit ihr verbundenen flüchtigen Freude. Maria dient uns zum hohen Vorbild wie man himmlische Worte vernehmen soll. Möge sie nur, allerdings die einzige in ihrer Art, die Glaubensgründe in sich selber trug, wie sonst niemand, kein Vorzeichen sein davon, daß nur wenige sich finden werden, die an Willigkeit zu glauben ihr ähnlich sind.


 Die Hirten hatten ihre Freudenbotschaft in Bethlehem ausgerichtet und kehrten alsdann zu ihrem Tagwerk zurück. Dieß geschah unter Lob und Preis Gottes, wie es ausdrücklich von der heiligen Schrift bezeugt wird. Ihrem Herzen war also nicht genug gethan durch die Verbreitung der seligen Botschaft, sie mußten sich gegen den Herrn, den Geber ihrer Freude, in Lob und Preis aussprechen. − Gottes Lob und Preis ist diejenige Herzensergießung, welche die Seele am meisten zufrieden stellt. Jede Feier vollendet sich im Lobgesang zu Gott. Von Gott kommt die Wohlthat, welche das Herz erfreut, und eine Leiter zu Gott wird sie, von dem sie kam. Alle Menschen, alles was Odem hat, soll Gott loben; vor allen Menschen aber und vor allen Creaturen sollen die Christen den HErrn loben, die von der Menschwerdung Gottes wißen und in dem Menschgewordenen, dem Kinde, welches zugleich Gott ist, die allerhöchste Wolthat erkennen. Und vor

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 038. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/49&oldid=- (Version vom 22.8.2016)