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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Wie erhebt die Betrachtung die sinkenden Kräfte! Wie freut man sich, wie gerne dient man Dir, o HErr, wenn man Dein Wohlgefallen so deutlich erkennt! Aber da sind so viele Arme, die auf Speise warten und keine geben können; die gerne tränkten, wenn sie nur getränkt wären; gerne kleideten, aber sie sind selbst bloß; gerne dienten, wenn sie nur das Vermögen hätten, zu dienen. Geben ist seliger, als nehmen: was wird mit denen sein, welchen Vermögen und Leibeskräfte fehlen, um zu dienen? Gibts denn unter uns Leute, die sich mit solchen Fragen und mit der Sorge befaßen, wie der Arme wohlthun solle? Sie werden zu zählen sein unter uns und anderwärts. Ach das sind seltene Arme, die da weinen möchten, wenn sie von der Süßigkeit und dem Lohn der Barmherzigkeit hören und sie selbst nicht wie andere bethätigen können. Wenige werden deshalb Trost bedürfen; doch werden es immerhin etliche sein. Man denke nur nicht bloß an die Bettelarmen, die vor Mangel nichts anderes denken können, als ihres Mangels Stillung. Man denke an die, deren Kräfte nicht nichts, aber klein sind. Wie oft sind wir unvermögend zu helfen und müßen mit blutendem Herzen Elend, das uns Gott gezeigt hat, ungelindert laßen. Was thun wir dann? Ach lieber Armer, dann faßen wir unsere Seelen im herben Schmerz der Ohnmacht in Geduld, oder noch beßer, wir fangen an zu beten und zu rufen zu Dem, der da reich ist über alle, vor welchem die betende Barmherzigkeit ohne Zweifel beßer ist als die gebende. − Und wenn wir aber nicht bloß andern nicht geben könnten, wenn wir selbst Wohlthat annehmen müßten? So bleibt uns doch auch das reiche Gebet, das über große Schätze waltet, und die wenn auch entsagungsvolle, doch edle Freude, daß unsre Noth andere zur Barmherzigkeit reizt und also die Ehre Christi befördert. Es ist kein leichter Weg, der hier mit wenigen Worten bezeichnet ist. Es wird oft sehr bitter, sich dienen zu laßen, auch wenn sich die Willigkeit uns zu dienen bei andern findet; und eine große Ueberwindung ist es, arm zu sein, und sein Brot nicht aus der Hand Gottes, sondern aus der Menschen Händen annehmen zu müßen. Dafür ist es aber auch etwas wahrhaft Großes, alles fühlen, was die Abhängigkeit von andern Bitteres hat, und dennoch fröhlich sein. Es können, ist eine große Gnadengabe und ein glänzendes Zeichen von der Huld des HErrn. Wer es kann und treulich übt, den wird der HErr an jenem Tage nicht verleugnen, vielmehr wird er zu denen gehören, welche die andern in die ewigen Hütten aufnehmen. Köstliche Kleinodien der Christenheit und ihres HErrn sind solche Arme, Zierden der Kirche und ihre Schätze. Sie können Menschen bitten, als bäten sie den HErrn, und betteln, als wären sie berufen, die unsterblichen Beweise der Liebe Christi in den Seinen einzusammeln. Hätten wir nur solcher Armen viele und wäre nur von ihnen das Wort des HErrn gesprochen: „Arme habt ihr allezeit!“


 Es sei gelobet der HErr, der unaustilgbar auf Erden gemacht hat den Armen und den Reichen, und ebendamit unaustilgbar die Barmherzigkeit, die der Reiche dem Armen erweist, die der Arme von dem Reichen in Demuth annimmt. Gelobt sei Er, daß Er dem Reichen im Armen den Reiz zur Barmherzigkeit, dem Armen im Reichen den Reiz zur Demuth geschenkt hat! Und selig ist der Knecht, den der HErr, wenn Er kommen wird, also wird finden thun, − den Er in Werken der Barmherzigkeit, in treuem Geben, in demüthigem, betendem Nehmen findet! − HErr, offenbare uns Deine Barmherzigkeit, gieße sie aus in unsre Seele, auf daß wir barmherzig werden im Geben und im Beten! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/494&oldid=- (Version vom 31.7.2016)