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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der HErr den auf Seine Zukunft wartenden Seelen so ernstlich empfehlen möchte. Nicht die unsichtbare Kirche, Christi Braut, sondern die sichtbaren Kirchen, welche im Bilde der zehn Brautjungfern dargestellt sind, − oder wenn man lieber will, die einzelnen Gläubigen sind es, an welche sich Christi Gleichnis wendet und von denen es lautet. Er, der himmlische Bräutigam will, daß alle sichtbaren Gemeinschaften, die sich nach Seinem Namen nennen, Brautjungfrauen sein sollen, die auf den Bräutigam warten, und Ihm in hellem Hauf mit brennenden Lampen entgegen gehen und Ihn zur Braut einführen, wenn Er kommen wird. Also sollen alle sichtbaren Kirchen für die Zukunft und in beständiger Hinsicht auf den großen Tag Seiner Wiederkunft leben. Nicht hier sich einbürgern, nicht die Erde dieser Welt einnehmen, sondern durchs Erdenleben voller Sehnsucht und Verlangen dem Tag der Vollendung entgegenwallen, unaufhaltsam, von allem, was rechts und links ist, ungeirrt, geradehin zum Ziele dringen, − in allem und allem „der Zukunft Christi entgegenkommen,“ das ist der von dem HErrn gewollte Charakter Seiner Kirchen und Gemeinden auf Erden.

 Bei diesem Charakter kommt es nun aber darauf an, daß man ihn nicht bloß eine kleine Zeit habe, sondern ihn behalte bis auf den Tag, des wir warten, und an diesem größten aller Tage selbst. Auf den HErrn zu warten − immer und allezeit, immer und in jedem Augenblick bereit zu stehen, bereit zu sein, vom entscheidenden Augenblick nicht überrascht zu werden, sondern, derselbe komme, wann er will, jedenfalls fertig zum Empfang des Bräutigams zu sein: das ists, was Noth ist, − und wißen, wie man’s dahin bringe, das ist die größte Weisheit. Und diese Weisheit und Himmelsklugheit zeigt eben unser HErr in unserm Gleichnis. Laßet uns diese Klugheit lernen!

 Worin besteht also wesentlich die Klugheit des auf den HErrn Christus wartenden Lebens? Im Allgemeinen in der Bereitschaft, denn V. 10 heißt es: „Welche bereit waren, giengen mit dem Bräutigam hinein zur Hochzeit und die Thür ward verschloßen.“ Allein worin besteht diese Bereitschaft? Man könnte dem Text gemäß antworten: „Die Bereitschaft besteht in einem ununterbrochenen Wachen, denn das ist im Gleichnis das letzte Wort: Wachet, denn ihr wißet weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.“ Es wird auch kein Mensch leugnen können, daß das „Wachen“ in der innigsten Verwandtschaft mit der wahren Bereitschaft stehen muß, weil ja der HErr Selbst es in Verbindung damit setzt und nach vorgetragenem Gleichnis spricht: „Darum wachet“. Aber dies Wachen ist eine Sache, welche wir zum Theil bei den klugen Jungfrauen des Gleichnisses eben so wenig finden, als bei den thörichten, denn sie fangen alle an zu nicken und sie schlafen alle ein, − und welche sich andern Theils bei den Thörichten eben so wohl findet, als bei den Klugen, denn sie wachen alle auf, da das Geschrei vernommen wird: „Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus, Ihm entgegen.“ Wachen ist das Gegentheil vom Schlafen. Schlafen heißt − auf den HErrn nicht warten, in die gegenwärtige Ruhe, in das eigenste, innerste Leben versunken sein; nicken, schläfrig werden heißt vom Warten auf Christum und Seine Wiederkunft müde werden, nicht mehr so angestrengt hinausschauen, ob Er noch nicht kommt, lau werden in Hoffnung und Erwartung Seiner Zukunft; wachen heißt Seiner warten, auf Ihn hoffen, das Aug, den Sinn, die Gedanken auf Ihn richten. Im ersten Jahrhundert nach der Auffahrt Christi, da wartete die Kirche unverrückt ihres Bräutigams; daher das helle Feierkleid, die himmlische Pracht ihres ganzen Lebens. Als aber die Apostel entschlafen waren, ohne daß der HErr wieder gekommen war, − als Jerusalem in Staub lag, ohne daß alsbald ihr nach die Welt in Staub zergieng, − als der Bräutigam verzog: da fieng man an zu nicken, müde zu werden, nicht mehr so streng auf der Hut zu sein. Und als die Kirche ansäßig ward auf Erden, des Landes Güter erbte, Kaiser und Könige ihre Säugammen wurden, da gefiel es ihr auf Erden, da schien ihr das Reich schier schon gekommen, − sie fieng an, die Zukunft Christi in einen fernen Hintergrund der Zeiten zurückzustellen; sie hatte es zu gut, um sehr nach endlicher Erlösung zu verlangen: aller Eifer des Wachens erstarb − und noch ist es so. Sieh über die Erde hin: welche Kirche wacht, welche steht auf der Hut des HErrn, welche sieht nach Aufgang? Alles schläft − niemand wartet mehr, keine Kirche zeichnet sich vor der andern durch besonderes Leben der Hoffnung aus: man kann Kluge und Thörichte nicht

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/497&oldid=- (Version vom 31.7.2016)