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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sünde dem HErrn misfällig geworden ist und daß unsre Leiber und die Fortpflanzung unsres Geschlechts der Reinigung und Heiligung bedürfen. Da wurde nun nach dem Gesetz auch der HErr beschnitten, der es nicht bedurfte, der, vom heiligen Geist empfangen, der einzige Jude war, für deßen eigene Person die Beschneidung keinen Sinn hatte, wenn man sie nicht, abgesehen von der Bedeutung, rein als äußerliches Bundeszeichen faßte, als Zeichen der Zugehörigkeit zum Alttestamentlichen Bundesvolke Gottes. Ganz diesen Charakter der Unanwendbarkeit auf die betreffenden Personen tragen auch die heute im Evangelium verzeichneten gottesdienstlichen Handlungen. Maria ist unrein nach dem Gesetz 3. Mos. 12, und doch hat sie vom heiligen Geist empfangen und ist mit keinerlei Makel behaftet. Sie soll ein Versöhnungsopfer bringen − und ihr Empfangen und Gebären ist ohne alle Sünde durch die Macht des heiligen Geistes und die Ueberschattung der Kraft Gottes. JEsus, der Erstgeborene Seiner Mutter, soll nach 2. Mos. 13, 2 ff., 4. Mos. 8, 16. ff. gelöst werden, und ist doch Selber Sinn und Erfüllung der ganzen Anstalt von der Erstgeburt und ihrer Lösung. Alle diese Handlungen haben deswegen für Maria und JEsus keine Anwendbarkeit, was ihre eigne Person betrifft. Doch kommt ein Sinn und eine Deutung, wenn wir St. Paulum hören. Derselbe schreibt Gal. 4, 4. 5: „Da die Zeit erfüllet war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gethan, auf daß Er die, so unter dem Gesetz waren, erlösete, daß wir die Kindschaft empfiengen.“ Er läßt sich beschneiden und auslösen, als wäre Er eine dem Tode geweihte Erstgeburt; Seine Mutter läßt sich reinigen und opfern, Er läßt auf Sich und Seine ganze Geburt das für die in Sünden empfangenen und geborenen Juden berechnete Gesetz anwenden, weil Er von Kindesbeinen an zeigen will, daß Er ihre, daß Er aller Welt Sünde trägt. Er stellt Sich für sie und alle Welt zum Bürgen, und indem Er die Gesetze erfüllt und an Sich erfüllen läßt, welche für den Lebensanfang des Juden gegeben waren, macht Er Sich eben damit anheischig, das ganze Gesetz zu erfüllen durch Leiden und durch Handeln. Die Darbringung, wie die Beschneidung haben daher einerlei Deutung auf den stellvertretenden Gehorsam, nur daß am Tage der Reinigung die Uebernahme der fremden Sünde und Schuld stärker hervortritt. Der HErr läßt Sich lösen, und nimmt die Todeswürdigkeit aller Kinder auf Sich; hernachmal stirbt der Gelöste dennoch für Alle. Das faßet ihr leicht, meine Lieben. − Sehen wir die Handlungen des heutigen Tages so an; so werden wir auch an ihnen einiges Wohlgefallen finden. Eine Frage bleibt dabei, ob wohl Maria, die Mutter JEsu, die eigentliche Deutung deßen einsah, was sie an sich und JEsu thun ließ, ob sie bereits die in den oben angeführten Worten aus dem Galaterbriefe ausgesprochene neutestamentliche Erkenntnis des alttestamentlichen Gottesdienstes besaß? Mit völliger Gewisheit wird sich diese Frage kaum beantworten laßen; aber wahrscheinlich ist es, daß ihr der Weg, den sie gieng, klar war. Wir lesen zwar, daß sich sowohl Maria und Joseph über das Thun und Reden Simeon’s verwunderten; allein es muß die Verwunderung keine Verwunderung der Unwißenheit, sie kann eben sowohl eine Verwunderung der Freude und Wiederfindung der eigenen Erkenntnis gewesen sein. Was wir aus dem Lobgesang Marien und den Reden Elisabeths und andern Stellen, in welchen die Erkenntnis Marien und der Ihrigen zu Tage liegt, schließen können, ist von der Art, daß es vielmehr auffallend wäre, wenn Maria nicht gewußt hätte, wie sie, die ohne Sünde empfangen und geboren hatte, die gottesdienstlichen Handlungen der Beschneidung und des heutigen Tages deuten und nehmen sollte. Sie wußte wohl auch, daß der HErr, eingehüllt in’s Dunkel alttestamentlichen Wesens und Lebens, Seinen Tag beginnen mußte, daß Er nicht vor der Zeit Nebel und Schaalen brechen durfte, nicht vor der Zeit im Lichte Seiner Klarheit erscheinen durfte.

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 Immerhin aber wird uns die Geschichte des alten Propheten Simeon näher an’s Herz treten, als die Handlungen des Tags. Simeon, obwohl ein frommer Jude, der ohne Zweifel an Gottesdienst und Tempel des Alten Testamentes hieng, macht mit seinem Thun und Reden auf uns Heidenkinder einen Eindruck, als wäre er kein Jude, sondern ein Gläubiger aus den Heiden; so wenig jüdisches Wesen zeigt sich an ihm, so gar scheint er allem alttestamentlichen Leben den Abschied gegeben zu haben. − Simeon war einer von denen in Israël, welche zu keiner der damals gangbaren Secten gehörten, aber in treuem Horchen auf das Wort Gottes voll Hoffnung und Erwartung des nahe bevorstehenden Heiles und voll Zuversicht geworden

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/502&oldid=- (Version vom 31.7.2016)