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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

waren, daß die Fülle der Zeit vorhanden sei. Simeon war aber nicht allein ein frommer und gottesfürchtiger Israëlit, der auf den Trost Israëls wartete; sondern er war ein Zeichen der Zeit und ein Prophet der kommenden Zeit. Er war alt und weil er den Tod im Lichte der göttlichen Gnade ansah, voll Verlangens nach der Ewigkeit; der heilige Geist aber hatte sein Herz gewis gemacht und ihm die Zuversicht gegeben, daß er die Ankunft des Messias erleben, daß er den Tod nicht sehen sollte, er hätte denn den Christ des HErrn gesehen. So war er sich und Andern mit seinen sinkenden Lebensjahren und Tagen ein Zeichen vom Greisenalter und nahen Ende des Alten Testaments, und vom Annahen des längsterwarteten Heils. Dieser Simeon war nun an jenem Tag im Geist und der Geist regte ihn an, in den Tempel hinaufzugehen. Da trug man ein Kind heran auf dem Wege von Bethlehem. Es waren arme Leute, die es trugen; und als sie den Tempelberg heraufstiegen, da sah man das Opfer der Armen in ihrem Korbe; es war ein Reinigungsopfer. Und sieh, als sie nun herein kamen, die armen Eltern und der arme Knabe, da wurden Simeon die Augen aufgethan, zu sehen − und er sah und erkannte im Lichte des heiligen Geistes und eines großen Glaubens den Christ des HErrn. Hohenpriester und Priester sahen und wußten nichts; aber der Greis Simeon wußte und erkannte, daß die junge Sonne aufgegangen war, und daß zu Seinem Tempel kam der HErr. Ihn kümmert nun Reinigung und Lösung der Erstgeburt nichts, sondern er sah in dem Knaben ein Licht, das alle Schatten vertrieb, ein Wesen, das alle Hüllen zerbrach, und weit über alle gottesdienstliche Formen des Alten Testamentes hinausragte. Da gieng er freudenvoll und voll des heiligen Geistes den in den Tempel tretenden Eltern entgegen, nahm ihnen das Kind von ihren Armen in seine Arme, sah es, sah in Ihm die aufgethane Herrlichkeit des HErrn, lobte Gott und begann seinen Lobgesang, an welchem seitdem die Alten und Sterbenden und Todesnahen, ja die ganze christliche Kirche sich nicht satt singen und hören können.

 Wie einfach ist dieser Gesang. Zwei Hauptgedanken hat er. „Nun läßest Du Deinen Diener im Frieden fahren“, − das ist der erste. „Denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen“, das ist der zweite. Aber wie einfach groß und hochbedenklich ist schon der Inhalt und Zusammenhang der zwei Gedanken ganz im allgemeinen: „Man kann im Frieden fahren, wenn man JEsum hat“. − Allerdings eine sehr bedingte Heimfahrt zur Seligkeit; eine leichte Möglichkeit seligen Todes, aber auch eine leichte Möglichkeit des Gegentheils. Es kommt alles auf den Besitz JEsu an: ewiger Segen und ewiger Unsegen, ja Fluch kommt über die Menschen, je nachdem sie Ihn haben oder nicht. Denn wenn gleich zu Simeons Zeiten das leibliche Sehen − und zwar im Lichte des Geistes die Sache nur Weniger war; so war doch schon im Alten Testament aller Segen und Fluch von der damals möglichen gläubigen Richtung auf Ihn, den Kommenden, abhängig, und nun, im Neuen Testamente, wo man Ihn mehr als sehen, wo man Ihn haben, Ihn empfangen, in Ihm sein und leben und sterben kann; da hängt vom Nahen und Fernen der Seelen von Ihm und zu Ihm kurzum alles ab. Simeon war ein Gläubiger; auch ohne leibliches Schauen hätte er selig sterben können; aber er stirbt nun nicht bloß selig, sondern in Fried und Freude, weil er weiß: die neue Zeit ist da, das Heil ist kommen; „ich habe es gesehen.“ Seine Freude ist, daß nun alles, was göttlich und gut ist, was selig und heilig, im Schwange gehen soll. Einfache Steigerung des einfachen Gedankens und der Wahrheit, an der geradehin alles und alles liegt!

 Allein es enthält der Lobgesang Simeons nicht bloß den einfachen Doppelgedanken; sondern der zweite Theil desselben: „Meine Augen haben Deinen Heiland gesehen“ − hat eine Erweiterung, vermöge deren eben, wie oben gesagt, der ganze Psalm die rein evangelische, neutestamentliche Gestalt bekommt. „Meine Augen, sagt Simeon, haben Deinen Heiland gesehen, welchen Du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis Deines Volkes Israël.“ In dieser Erweiterung des zweiten Satzes liegt eine große Weitschaft der Aussicht und Einsicht: man wird hier, wie öfters in der Geschichte der jugendlichen Tage Christi überrascht von der Fülle des Lichtes, welche der heilige Geist Seinen Gläubigen gab. Es ist kein Judenheiland, der in dem Kindlein heranwachsen soll, − nein, dies Kind ist Heil, welches vor allen Völkern und für alle Völker bereitet ist, für Juden und Heiden, welches für alle da ist und von allen empfangen und genoßen werden soll, − welches allen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/503&oldid=- (Version vom 31.7.2016)