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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Tage der Verkündigung Marien.
Luc. 1, 26–38.
26. Und im sechsten Monat ward der Engel Gabriel gesandt von Gott in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth. 27. Zu einer Jungfrau, die vertrauet war einem Manne, mit Namen Joseph, vom Hause Davids; und die Jungfrau hieß Maria. 28. Und der Engel kam zu ihr hinein, und sprach: Gegrüßet seyst du, Holdselige, der HErr ist mit dir, du Gebenedeiete unter den Weibern. 29. Da sie ihn aber sahe, erschrack sie über seiner Rede, und gedachte: Welch ein Gruß ist das? 30. Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. 31. Siehe, du wirst schwanger werden im Leibe und einen Sohn gebären, deß Namen sollst du JEsus heißen. 32. Der wird groß, und ein Sohn des Höchsten genennt werden, und Gott der HErr wird Ihm den Stuhl Seines Vaters Davids geben; 33. Und Er wird ein König sein über das Haus Jakobs ewiglich, und Seines Königreichs wird kein Ende sein. 34. Da sprach Maria zu dem Engel: wie soll das zugehen? Sintemal ich von keinem Manne weiß. 35. Der Engel antwortete, und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum auch das Heilige, das von dir geboren wird, wird Gottes Sohn genannt werden. 36. Und siehe, Elisabeth, deine Gefreundte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter; und gehet jetzt im sechsten Monat, die im Geschrei ist, daß sie unfruchtbar sei. 37. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. 38. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des HErrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.

 DUrch Fügungen, welche wir nicht kennen, waren Sproßen der Familie Davids nach Galiläa, in die Stadt Nazareth und in große Armut gekommen. Die Menschen, so sehr die Weißagungen auf die Nachkömmlinge Davids hinwiesen, achteten des heruntergekommenen und klein gewordenen Geschlechtes nicht, aber Gott wollte Seine Barmherzigkeit und Seine Verheißung nicht vergeßen. In den Tagen, da Herodes König und Augustus Kaiser war, lebte zu Nazareth in Galiläa eine Jungfrau, jung an Jahren, und wie die Schrift sagt, die verlobte Braut eines frommen Mannes aus dem Hause David, des Zimmermanns Joseph. Diese war von aller Ewigkeit her ausersehen, die Mutter des Heilands zu werden: sie war durch Gottes Wahl das Weib, deren Same der Schlange den Kopf zertreten sollte, und die Jungfrau, von welcher Jesaias (Cap. 7.) weißagt. Zu ihr kam im sechsten Mond nach der Erscheinung, welche Zacharias im Tempel beim Räuchern gehabt hatte, der Engel Gabriel. Er kannte sie und kannte sie mit Namen, ihr Name und, was Gott mit ihr beschloßen, war also im Himmel kund, ehe sie wußte, was ihr geschehen sollte. Gabriel war zu ihr gesandt − und da er kam, der Jungfrau ihr heiliges Loos zu verkündigen, da redete er nicht in überlegener Majestät, sondern mit einem Gruße und mit einer Einleitung die Demüthige an, welche nicht bloß sie in Verwunderung setzte, daß sie dachte: „Welch ein Gruß ist das?“ sondern welche bis zu dieser Stunde alle Welt in Erstaunen setzt. Nie wurde von Engeln ein Menschenkind so, mit solcher Ehrerbietung angeredet. „Gegrüßet seist du, spricht der Engel, welcher vor Gott steht, zu dem Jungfräulein. Gegrüßt seist du, Holdselige, Selige in Gottes Huld und Gnade, Reichbegnadigte.“ Also in den Augen der Himmlischen war dieser Lebensberuf, diese Mutterschaft, welche nun Marien zu Theil werden soll, eine reiche, große Gnade und Gnadenfülle, und wir armen Menschenkinder schätzen sie also auch nicht zu hoch, wenn wir mit Preis und Ehre davon reden. „Gegrüßt seist du, Holdselige,“ spricht der Engel. „Der HErr ist mit dir,“ fährt er fort, und wie ist Er mit dieser Jungfrau, wie vereint Er sich mit ihr, wie wirkt Er in ihr und aus ihr, wie hilft Er ihr! Also, daß es kein Wunder ist, wenn sie von Gabriel nach der Tiefe und Wahrheit seiner engelischen Erkenntnis „die Gebenedeite unter

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/505&oldid=- (Version vom 31.7.2016)