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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

den Weibern“ genannt wird. „Der HErr ist mit dir, du gebenedeite unter den Weibern.“ Alle Frauen in Israël hungerten und dursteten nach der hohen Ehre, die Mutter des Messias zu werden, alle erkannten diese Mutterschaft für den höchsten Ruhm. Bei allen Weibern groß und hochgebenedeit, von allen Israëliten, von Propheten und Priestern hochgerühmt und gepriesen war, noch ehe ihr Name bekannt war, das Loos Marien! − Schauer der andern Welt durchdringt Marien beim Gruß des Engels; sie erschrickt − weniger über die Person, die da redet, als über die Rede, welche aus des Engels Munde gehet. „Welch ein Gruß ist das“ − und wer ist die, welche von den höchsten Engeln so gegrüßt wird! − Der Engel redet weiter, und wie viel, wie Großes redet er! Mit wem vorher haben Engel so Großes und Herrliches geredet! „Fürchte dich nicht, Marie, du hast Gnade bei Gott gefunden.“ − Gnade, denn dies Loos kann kein Verdienst, kann nur Gnade sein. Nichts verdient ein Mensch, ein menschlich Weib, wie soll das größte, gnadenreichste Loos, Gottes Mutter zu werden, ein Verdienst sein können? „Siehe du wirst schwanger werden im Leibe“ − also wirklich, das beneidete, einzige Glück, das keiner zweiten widerfahren kann, widerfährt Marien. Denn bei diesen Worten mußte die fromme, in Gottes Wort und Verheißung aufgewachsene Jungfrau den Hauptsinn der ferneren Rede Gabriels bereits ahnen. „Du wirst einen Sohn gebären, deß Namen sollst du JEsus heißen“ − also JEsus, JEsus ist der Name des Ersehnten, − „JEsus, JEsus“, ehe Er empfangen wird, kann die heilige Mutter den schönsten Namen des heiligsten Sohnes nennen, sie kann mit Namen nennen Den, welcher Seiner Menschheit nach noch nicht ist. „JEsus, JEsus“ − heißt der Sohn der Jungfrau. „Der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott, der HErr, wird Ihm den Stuhl Seines Vaters David geben, und Er wird ein König sein über das Haus Jakobs ewiglich, und Seines Königreichs wird kein Ende sein.“ Ha, was alles liegt in diesen Worten für eine Gnadenfülle: „ewiges Königreich, ewiger König, Sohn des Höchsten, groß!“ Und Maria wird die Mutter dieses Sohnes: ist sie die Gebenedeite unter den Weibern, ist sie selig in Gottes Huld und Gnade oder nicht? − Selig von Huld und Gnade erscheint sie aber dennoch in der Würde hoher Einfalt und in nüchterner Ruhe. Laß Andern Engel erscheinen und sieh zu, wie sie verstummen oder vergehen vor den leuchtenden Angesichtern aus der andern Welt. Diese Jungfrau aber redet mit dem Engel aus der Höhe, wie wir bei der Ueberraschung durch wichtige Botschaften kaum mit gewöhnlichen Boten zu reden vermögen. Eine hohe Seele ist gefaßt in großen Augenblicken. Wer aber ist gefaßter, als Maria, die Jungfrau. Mutter soll sie werden, Mutter des Heiligen Israël, des Hochgelobten, aber wie? „Wie soll das zugehen, sagt sie, sintemal ich von keinem Manne weiß?“ Sie ist mit Joseph verlobt, aber sie weiß nicht von ihm, und weiß nicht, wie Gottes Rath ist mit ihm und mit ihr. Da kommt die Antwort des Engels. Sie weiß von keinem Manne, und soll von keinem Manne wißen. Obwohl von dem Geblüt der Gebenedeiten, soll doch der Heilige Israëls nicht von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes geboren werden. Wie der erste Adam von Gott aus einem Erdenklos, so soll der zweite von Gott in Maria wunderbar bereitet werden. „Der heilige Geist wird über dich kommen, spricht Gabriel, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Darum auch das Heilige, das von dir geboren wird, wird Gottes Sohn genannt werden.“ Das ist die Antwort auf Mariens Frage, worauf ihr alles fernere Wie und jede Frage erstirbt. Es wird ihr zur Stärkung ihrer ohnehin glaubenswilligen Seele ein Zeichen gegeben, auf die ähnliche Lage der alten Gattin des gleichfalls alten Priesters Zacharias, ihrer Verwandtin hingewiesen, und versichert, daß kein Ding bei Gott unmöglich sei. Da neigt sie sich und betet an. Groß und hehr ist das Wort, welches sie in heiliger, seliger Ruhe und tiefer Demuth spricht. „Siehe, spricht sie zum Engel, ich bin des HErrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Der HErr der Herrlichkeit erfordert zum größten aller Wunder ein bereitetes, gläubiges Herz, − einen heiligen, ergebenen Willen. Einwilligung vom innersten Seelengrund, vollkommene Ergebung findet der HErr bei Marien.


 Man redet von Seiten der Römischen von Verdiensten Mariens und erhebt sie in einer Weise, welche niemanden misfälliger sein wird, als ihr selbst, der größten, der holdseligsten, gebenedeitesten aller Frauen.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/506&oldid=- (Version vom 31.7.2016)