Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/507

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

„Du hast Gnade bei Gott gefunden“, spricht der Engel zu ihr und deutet damit an, daß sie von Natur andern Menschen gleich, in Sünde geboren, der göttlichen Schonung und Gnade bedürftig ist. Das war und blieb sie, sie, von deren Unvollkommenheit auch später die Schrift berichtet und wie durch weise Absicht und Vorsicht des heiligen Geistes so von ihr spricht, daß wir nie vergessen können, sie sei aus unserem sündigen Orden entsprungen. Aber wenn gleich gewis ist, daß man schriftgemäß niemals redet, wenn man von Mariens Verdiensten spricht, − niemals, wenn man sie anruft, als wäre sie eine Helferin der Sterblichen in ihren Nöthen; so ist doch im Gegentheil auch das gewis, daß die Protestanten gewöhnlich zu gering von ihr, der Mutter unsers Erlösers, denken und reden. Wenn die Denkart der meisten Protestanten von Marien die rechte wäre, so müßte die Denk- und Ausdrucksweise des Engels Gabriel im heutigen Evangelium eine falsche sein, − eine Behauptung, die niemand thut, und die, würde sie gethan, allen Abscheu verdiente. Das Maaß, wie wir von Marien zu denken haben, von ihrer Stelle und Stellung im Reiche Gottes und von ihrer inneren, wie man sagt, religiösen und sittlichen Vollendung, − zeigt uns unser Evangelium. Sie ist eine Jungfrau − und wird Mutter ohne Mannes Zuthun: an sich eine Auszeichnung, durch welche sie einzig unter allen Frauen steht. Sie wird zur Mutterschaft bereitet durch den Heiligen Geist, sie wird Mutter durch Ueberschattung der Kraft Gottes, d. i., wie die Alten deuten, des Sohnes Gottes. Dadurch steigt die Einzige in unserer Würdigung. Sie ist eine Wohnung, eine Werkstätte, ein Paradies des HErrn, darin Er Seinen zweiten Adam schafft. Wenn sie auf gleichem Wege ein gewöhnlich Menschenkind empfangen und geboren hätte, wäre sie wunderbar über alle Frauen erhaben. Aber sie empfängt und gebiert ein Heiliges, einen Gottessohn, den Sohn des Höchsten, − und doch ein Menschenkind, einen König, der unsterblich ist und ein unvergänglich Reich regieren, auf dem Stuhle Seines Vaters David sitzen und JEsus d. i. Seligmacher Seines Volkes sein und heißen soll. Der Frauen Ehre ist ihre Mutterschaft; wenn eine einen ausgezeichneten Sohn gebiert, wird sie selbst eine ausgezeichnete Mutter. Wie ausgezeichnet, wie begnadigt, holdselig und gebenedeit vor allen Weibern muß Maria sein, welche empfängt und gebiert den König, den Christ, den Seligmacher, den Heiligen, den Unsterblichen, den Seligmacher, − ja den Gottmenschen, den, auf welchen Eva umsonst gehofft hatte, „den Mann, den HErrn, den Mann Jehova.“ Das Altertum hat in heißen Kämpfen behauptet und bewiesen, daß man Marien eine Gottesmutter und Gottesgebärerin nennen müße und die lutherische Kirche hat sich dem Zeugnis des Altertums mit vollem Herzen angeschloßen. Man meint mit dem Ausdruck „Gottesmutter, Gottesgebärerin“ nicht, daß die Gottheit von der Menschheit und von der menschlichen Mutter ihre Abstammung habe: solchen Unsinn und solche Lästerung muß man der Kirche, der Jüngerin des wahrhaftigsten Lehrers, nur nicht zutrauen. Aber das meint man, sagt man, bekennt und behauptet man als ewige unumstößliche Wahrheit und als einen Artikel des Glaubens, bei deßen bewußter Verwerfung man nicht selig werden kann, daß die Kraft des Höchsten, der Sohn Gottes Marien nicht bloß überschattet habe, um in ihrem Mutterschooße ein heilig Menschenkind schöpferisch zu bilden, sondern um Sich Selbst mit diesem Menschenkindlein auf ewig in der Einheit einer allerheiligsten Person zu verbinden. Das behauptet man, daß das Kindlein, welches die heilige Jungfrau empfangen hat, schon von dem ersten Augenblick seines Daseins in die Gottheit aufgenommen wurde und mit der zweiten Person der Gottheit Eine Person ausmachte, daß Mariens Kind schon, als es noch unter ihrem Herzen lag, ja im ersten Augenblicke der Empfängnis Gott und Mensch gewesen, daß sie ein Kindlein empfangen habe und geboren, welches zwei Naturen, göttliche und menschliche, von Anfang an gehabt, daß sie also eben sowohl sagen konnte, sie habe Gott, als, sie habe ein Menschenkind geboren. Was ist das aber anders, als was in den Ausdrücken liegt: „Gottesmutter, Gottesgebärerin“? Nicht zunächst um der Mutter willen, deren Würde mit dieser Behauptung steht und fällt, sondern um des HErrn, um Seiner Ehre und um unsers Heiles willen muß das anerkannt, nachgesprochen und bestätigt werden. Wie kann das auch anders sein? Das Heilige, was aus Marien geboren wird, soll Davids Sohn sein, David wird vom Engel Sein Vater sein; so ist Er ja ein Mensch. Aber der Engel sagt auch zwei Mal, daß er Gottes Sohn sein soll. „Er wird groß und ein

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/507&oldid=- (Version vom 31.7.2016)