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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Menschwerdung Christi, an Weihnachten aber das Fest der Offenbarung, Erscheinung und Einführung des Menschgewordenen in die Welt; was man an Weihnachten von der Menschwerdung zu singen und zu sagen pflegt, gehört in der That auch für diesen Tag. Es ist leicht zu ergründen, wann in der Textgeschichte die Mutter und der Engel mehr hervortreten, als Er Selbst, der HErr. Es ist ja Sein Empfängnistag, ein Tag, der Gewisses weiß, Tiefes bedenkt, aber schweigsam und stille ist, bis der Weihnachtstag Lied und Zunge mächtig löst und das Wunder Gottes in weite Kreiße bringt. So stille aber der Empfängnistag gewesen, so eingehüllt er war in seliges Geheimnis: jetzt ist es doch anders. Man predigt zwar, indem man den Text auslegt, viel von Marien und Gabriel, aber sie selbst predigen und reden von Ihm − und wenn wir ihr Reden und Ergehen darlegen, ist es doch auch nur ein stillverdecktes, heiliges, verblümtes Reden allein von Ihm, dem Sohne Mariens. Es ist ja weit mehr daran gelegen, wer empfangen wird, als wer die Mutter wird und wer die Empfängnis verkündigt. Was ist Maria und Gabriel, ihr Reden, Thun und Ergehen ohne Ihn? Nicht allein matter wird ihr Schimmer, sondern in eitel Nacht zergeht er, wenn Er fehlt. Wie groß ist Maria − um Seinetwillen, wie herrlich Gabriel, wenn er Ihn verkündigt! Aber Maria − nicht Mutter Gottes − Gabriel nicht Bote JEsu? Denn sind sie’s nicht, die wir lieben, ehren und besingen, − dann ist alles anders. Es kommt alles auf JEsum an, und Marien Verkündigungstag hat seine ganze Glorie darin, daß er JEsu Empfängnistag ist.

 Richte, Hörer, richte deine Sinnen in Einfalt auf den Text und laß mich dir in wenigen ernsten, kurzen, starken Worten, halb schweigend, halb redend, leise und laut zugleich, denn es gilt ein göttliches Geheimnis, das alle Engel gelüstet zu schauen und das keiner ergründen kann, − laß mich dir leise, stille, die Augen zum Himmel gerichtet sagen und wiederholen, was wir heute feiern.

 Heute ist ER von einer Jungfrau in unverletzter Keuschheit empfangen, daß Er ein Jungfrausohn würde. − Keinen menschlichen Vater hat Er, auf daß nicht Adams Sünde auf Ihn fortgepflanzt würde; denn Er soll Adams Sünde büßen. − Der heilige Geist kommt über die Mutter, ER weiß aus ihr das Sündliche zu scheiden, und nimmt, ungeirrt von ihrer eigenen befleckten Empfängnis, zum Tempel Gottes nicht der Sünde Zuthat, sondern die reine Creatur des HErrn, Heiliges von der geheiligten Mutter. ER, der Schöpfer, weiß bei der Schöpfung des zweiten Adams das, was Er geschaffen, von dem sündigen Beiwesen zu scheiden. − Ein Heiliges wird empfangen, ein völlig reines Menschenkind von der Mutter, die selbst sündig empfangen ist. Wunderbarer Geist Gottes! − Die Kraft des Höchsten überschattet die vom Geiste Gottes geheiligte Mutter und vollzieht im Augenblicke, da Christi Menschheit geworden, die ewige Vereinigung mit der Gottheit und der Gottheit mit ihr. Was empfangen wird, ist Gott und Mensch, Gottes Sohn, des Höchsten Sohn. − Der HErr ist in Seinem Tempel. Bei Ihm ist kein Ding unmöglich. Tiefes Geheimnis ruht über allem, aber warte, bald werden die Himmel blühen und die Herrlichkeit Gottes erscheinen und die Engel singen, was Gott gethan. − Gott ist Mensch geworden, − und dein König ist empfangen, Israël! Dein Gott ist König. Und Gott, Sein Gott, wird Ihm geben das Reich Seines Vaters David und Seinen Thron in Ewigkeit. Ein König großer Hoffnung ist empfangen − und nun auch längst geboren.

Heiliger, Heiliger, Heiliger HErr Gott Sabaoth!
Voll sind Himmel und Erdreich Deiner Ehren!
Hosianna dem Sohne Davids!
Gelobet sei Marien Sohn, der da kommt im Namen des HErrn!
Selig macht Er uns in der Höhe!
 Halleluja! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/509&oldid=- (Version vom 31.7.2016)