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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Sonntage nach Weihnachten.

Evang. Luc. 2, 33–40.
33. Und Sein Vater und Mutter wunderten sich des, das von Ihm geredet ward. 34. Und Simeon segnete sie, und sprach zu Maria, Seiner Mutter: Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel, und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird, 35. (und es wird ein Schwert durch deine Seele dringen,) auf daß vieler Herzen Gedanken offenbar werden. 36. Und es war eine Prophetin Hanna, eine Tochter Phanuel, vom Geschlecht Aser, die war wol betaget, und hatte gelebt sieben Jahre mit ihrem Manne nach ihrer Jungfrauschaft, 37. und war nun eine Wittwe bei vier und achtzig Jahren, die kam nimmer vom Tempel, dienete GOtt mit fasten und beten Tag und Nacht. 38. Dieselbige trat auch hinzu zu derselbigen Stunde, und preisete den HErrn, und redete von Ihm zu allen, die da auf die Erlösung zu Jerusalem warteten. 39. Und da sie es alles vollendet hatten nach dem Gesetz des HErrn, kehreten sie wieder in Galiläam, zu ihrer Stadt Nazareth. 40. Aber das Kind wuchs, und ward stark im Geist, voller Weisheit, und GOttes Gnade war bei Ihm.

 NOch hallt in diesem Evangelium etwas von dem Festjubel wieder; aber schon lenkt es auch mit einem Theile seines Inhalts auf ganz andere Gedanken ein. Schon weist es aus der Freudenzeit der Weihnachten auf kommende Leidenstage des Neugeborenen, und der ernste Gang, welchen der Lebenslauf dieses Kindes nehmen sollte, deutet sich an. Die kindliche Weihnachtsfreude, der wir uns überlaßen hatten, beginnt damit allerdings zu weichen, aber dafür steigt die Person des Neugeborenen in unsern Augen desto höher. Denn die heilige, große Absicht Seines Lebens, die uns so nahe angeht, kann nicht vor uns enthüllt und von uns erkannt werden, ohne daß wir uns vor Ihm selbst ehrfurchtsvoller, anbetender neigen. Laßen wirs also nur geschehen, daß die Weihnachtsfreude abnimmt; fürchten wir keinen Verlust; gehen wir getrost hinein in den Reichtum unsers Evangeliums; nehmen wir dankbar betrachtend etwas von dem Vielen, was es von der Kirche, von ihrem ewigen Bräutigam und von der nothwendigen Beschaffenheit derer sagt, die Glieder Seiner Kirche sein wollen.


 1. Unser Evangelium redet von der Kirche, aber von derjenigen, welche zu Zeiten der Geburt unsers HErrn Jesu Christi mitten unter dem Volke Israel grünte und blühte. Schon unter dem alten Testamente gab es eine Kirche, welche auf Christum, den Fels, gebaut war. Zwar glaubte sie an den Christus, der erst kommen sollte, und im neuen Testamente glaubt man an Den, der gekommen ist: aber es ist doch eine und dieselbe Person, welche sie im Glauben meinte und wir verehren; es ist Ein Glaube, der sie warten lehrte und uns befriedigt: sie und wir sind eben deshalb mit einander eng und nahe verwandt und verbunden. Indes unser Evangelium zeigt uns nicht eine alttestamentliche Kirche, welche an den Kommenden glaubte, sondern eine neutestamentliche, welche sich um den Gekommenen versammelt hat. Kaum war der HErr im Fleische angekommen, so begann sichs, wie uns das Weihnachtsevangelium bereits gezeigt hat, um ihn her zu sammeln. Es war zwar anfänglich nur eine kleine, aus wenigen bestehende Kirche. Maria und Joseph, − die Hirten, − Simeon und Hanna, etliche wenige, welche auf das Zeugnis der letzteren gläubig wurden, − das sind alle Glieder des heiligen

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 040. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/51&oldid=- (Version vom 22.8.2016)