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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Sündenelend; davon weiß sie einen Heiland. Gott ist ihr Heiland worden durch Menschwerdung. Es gibt ja keinen Heiland, als den Menschgewordenen. Diese, keine andere Erkenntnis ziemt der Gottesmutter; wie Elisabeth die Leibesfrucht Marien ihren HErrn nennt, so nennt Maria selbst sie „Gott, ihren Heiland?“

 Die nächsten beiden Verse preisen Mariens besonderes Glück und die Größe, welche ihr der HErr verliehen hat und verleihen wird. „Er hat die Niedrigkeit Seiner Magd angesehen.“ Gott, ihr Heiland, hat ihre Niedrigkeit angesehen; denn sie, eine Tochter David, eine königliche Jungfrau, auf der alle Verheißungen ruhten, war ja klein und gering, arm, vergeßen und geringgeschätzt. Aber nun ist sie angesehen; der HErr hat sie gesehen und ist nicht an ihr vorübergegangen; so hat er nie ein Weib begnadigt. Er wohnt nun in ihr − und aus ihr, wie der Bräutigam aus der Kammer, wie die Sonne aus ihrem Gezelt, wird Er kommen, zu laufen Seinen Weg. Alle Welt wird den Sohn, die Himmelssonne, schauen − und Seine Mutter wird deß gepriesen sein, daß ihr Leib Ihn getragen, ihre Brüste Ihn gesäugt haben. „Siehe, sagt sie, − nun ist alle meine Niedrigkeit am Ende, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskind.“ − Warum denn? Um deinetwillen, Maria? Nein, nein, sie kennt und weiß sich, sie preist pur lautere Gnade. Sie wird um der Großthaten Gottes in ihr und ihrem Leibe selig gepriesen werden. „Sie werden mich selig preisen, denn Er, Er hat große Dinge an mir gethan, der da mächtig ist und deß Name heilig ist.“ Die Menschwerdung ist ihr also eine That der Macht − und heilig, heilig Sein Name, weil Er sie vollbrachte. − Kindeskinder sollen sie selig preisen. Selig werden die Kindeskinder nicht durch diese Seligpreisung, selig werden sie dadurch, daß sie, wie Maria, Gottes Wort hören und bewahren; aber eine Weißagung ist es dennoch, daß Maria soll selig gepriesen werden, wiewohl aus Maria eigenem Munde; denn freudentrunken, Geistes voll darf sie nicht ihre Würdigkeit, aber ihr großes Glück und die Anerkennung desselben rühmen, welche es bei allen Geschlechtern finden wird. − Kindeskinder werden sie selig preisen. Unter ihnen auch wir und unsre Kinder. Elisabeth ist unsre Vorgängerin und wir folgen ihr nach mit Seligpreisung, − und wenn die Kirche dermaleins wieder zur Vesperzeit jedes Tages, wie früher, auch bei uns, den Lutherischen, Mariens Lobgesang singt, dann wollen wir bei dem vollen Chor nicht fehlen, sondern weißagend und zugleich erfüllend singen: „Es werden mich selig preisen alle Kindeskind.“

 Die Verse 50 bis 55 bilden einen zweiten Theil des herrlichen Lobgesangs und weißagen Gottes Barmherzigkeit Seinem Volke für und für. Nachdem ein Heiland gekommen und das Weib, von welchem der Saame kommen soll, gefunden ist und von ihrer Heimsuchung redet, ist Beweis und Anfang einer ewigen Barmherzigkeit gegeben. Damals, als der HErr im Mutterleibe ruhte, waren Hoffärtige, Gewaltige und Reiche im Lande, Herodes und die Seinen, und die Familie des Königs lag im Staube, − und Israël war geknechtet, am meisten die Heiligen, die auf das Reich Gottes warteten. Aber siehe, der König im Mutterleib wird die Hoffärtigen zerstreuen, die Gewaltigen vom Stuhl stoßen, die Reichen zum Darben bringen, alle irdische Hoheit in allen Landen, so hoch sie sich brüste gleich also behandeln; dagegen aber Sein Reich der Barmherzigkeit und Gnade in allen Landen aufrichten, alle Niedrigen, wie Maria, erheben, alle Hungrigen sättigen und alles erfüllen, was Er Abraham und seinem Samen, Seinem Sohne Christus und denen, die an Ihn glauben, ewiglich geredet und geschworen hat. Das alles wird Er thun in wunderbarer, oft der Welt verborgenen Weise, so lange Er unsichtbar König ist und herrschet, aber am Ende der Tage mit Glorie und Herrlichkeit. − Einen solchen Blick hat die Mutter Gottes und weißagt also der gesammten Kirche ihr eigenes Loos, ihren eigenen Gang von der Niedrigkeit zur endlichen, ewigen Erhöhung. An dieser Weißagung hält und baut sich die arme Kirche und sieht, wie in Elisabeth die Vorgängerin in der Seligpreisung der Mutter Gottes, so in dieser selbst die Vorgängerin auf den königlichen Kreuzweg, auf welchem jedoch ihr eigner Sohn unnachahmlich und hehr gegangen ist − unter einem Kreuze, das weder sie getragen hat, noch tragen konnte, − noch auch wir tragen können.


 So sprachen und sangen die zwei Frauen, die eine eine Prophetin des Alten, die andere eine Prophetin des Neuen Bundes. Die eine, Elisabeth, deutet auf nahe, die andere auf ferne Erfüllungen, beide aber sind einig im Glauben und Preise JEsu. − Bei drei

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/513&oldid=- (Version vom 31.7.2016)