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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Monaten blieben sie beisammen. Was mögen diese beiden in ihrer hohen Freudenzeit von einander und mit einander unter der Leitung des Heiligen Geistes gelernt, mit einander erfahren und gebetet haben. Die junge, blühende Greisin − und dies Jungfräulein von wenig Jahren, aber voll himmlischer göttlicher Erkenntnis: was mögen die für eine Frauenfreundschaft gepflogen, was für eine Seligkeit genoßen, was für eine Verbindung für ewige Zeiten geschloßen haben! − Nach drei Monden, als Elisabeths Zeit kam, gieng Maria der Heimath zu, wohin ihr Gott die Wege bereitete, wie Er es nach Juda her gethan, wo Er ihr Josephs und der Ihrigen Herz und Ehrerbietung nicht verloren gehen ließ, sondern durch engelische Botschaft aufs Neue und mehr als je in Wonne und Inbrunst zuneigte.


 Es ist, meine theuern Brüder, eine eigene Weisheit der Kirche, daß sie die Feier der Heimsuchung Mariens, d. i. des Besuchs Maria bei Elisabeth, nicht auf die Zeit gleich nach dem Fest der Verkündigung, wohin sie gehört, sondern auf diese hohe, festtagslose Sommerzeit verlegt. Eine süße Feier, die wie Thau und Balsam auf die Seelen träuft! Eine wahre Labung in der Hitze! Ein Blick aufs Gebirg, wo Gottes Lüfte wehen! Ein Blick nach Canaan, der Sehnsucht weckt, und uns ermuntert, dem Einfluß des Elements und der Arbeit nicht zu erliegen, sondern die müden Kniee, die laßen Hände zu stärken! − O HErr, lehr Du uns in dem heißen Sommer fröhlich mit Deiner Mutter singen, Deiner ewig froh und durch Dich selig werden! Amen.




Am St. Michaelistage.
Matth. 18, 1–11.
1. Zu derselbigen Stunde traten die Jünger zu JEsu, und sprachen: Wer ist doch der Größeste im Himmelreich? 2. JEsus rief ein Kind zu Sich, und stellete es mitten unter sie. 3. Und sprach: Wahrlich, Ich sage euch, es sei denn, daß ihr euch umkehret, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. 4. Wer sich nun selbst erniedriget, wie dieß Kind, der ist der größeste im Himmelreich. 5. Und wer ein solches Kind aufnimmt in Meinem Namen, der nimmt Mich auf. 6. Wer aber ärgert dieser Geringsten Einen, die an Mich glauben, dem wäre beßer, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget, und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist. 7. Wehe der Welt der Aergernis halber! Es muß ja Aergernis kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Aergernis kommt! 8. So aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab, und wirf ihn von dir. Es ist dir beßer, daß du zum Leben lahm, oder ein Krüppel eingehest; denn daß du zwo Hände oder zween Füße habest, und werdest in das ewige Feuer geworfen. 9. Und so dich dein Auge ärgert, reiß es aus, und wirf es von dir. Es ist dir beßer, daß du einäugig zum Leben eingehest; denn daß du zwei Augen habest, und werdest in das höllische Feuer geworfen. 10. Sehet zu, daß ihr nicht Jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn Ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht Meines Vaters im Himmel. 11. Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.

 IN diesem Texte löst der HErr eine Frage Seiner Jünger, nemlich die: „Wer ist der Größeste im Himmelreich?“ oder, wenn es erlaubt ist, nach dem Wortlaut des Grundtextes Luther’s deutsche Worte umzudeuten: „Wer ist im Himmelreich größer als andere − wer ist groß im Himmelreich?“ Die Frage des Textes sei unser Thema − und das Geschäft dieses Vortrags sei es, die Antwort JEsu vorzulegen.

 Ueber die Absichten der Jünger bei der Frage wollen wir wenig reden. Vielleicht ist anzunehmen, daß es keine völlig reinen waren. Christus würde vielleicht die Antwort anders geformt haben, wenn Er nicht nöthig gefunden hätte, einer falschen Regung im

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/514&oldid=- (Version vom 31.7.2016)