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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Herzen der Jünger entgegenzutreten. Wir wollen übrigens die Absichten der Jünger so weit es möglich ist, ohne dem Texte seine Eigentümlichkeit zu nehmen, bei Seite laßen und die Frage: „wer ist groß im Himmelreich?“ als eine einfache Frage von allgemeiner Wichtigkeit nehmen und beantworten. Es ist ja auch im Himmel und Himmelreich nicht alles so frei und gleich, wie es die Aufrührer unserer Tage im bürgerlichen Leben einzuführen wünschten, − wenn sie’s nemlich aufrichtig wünschen. Es gibt allenthalben, wo Gott herrscht, im Reiche der Natur, der Gnade und der Herrlichkeit Unterschiede, Großes und Kleines, nur daß im Reiche der Natur das Große und Kleine durch einen unwiderstehlichen göttlichen Willen geordnet ist, während im Reiche der Gnaden und Herrlichkeit, von welchem unser Text redet, nicht rücksichtslose Allmacht das Große und Kleine bestimmt, sondern eine heilige Rücksicht auf den Menschen genommen wird und ohne eignes Wollen und richtiges Verhalten niemand weder groß wird, noch klein bleibt. Unser Text redet von einer Größe, welche vom Verhalten des Menschen nicht unabhängig ist, welche angestrebt und erreicht werden kann und soll, auf innerer, fortschreitender Vollendung und Verklärung in das Bild Gottes beruht. Ueber eine solche Größe zu reden und nach ihr zu fragen, ist ganz recht. Wir können weder nach ihr streben, noch sie erreichen, wenn wir nicht wißen, worin sie besteht und wie man zu ihr gelangt.

 Will man nun den Inhalt des Evangeliums in Bezug auf die Frage kurz zusammenfaßen und übersichtlich darlegen, so kann man sagen: der HErr zeigt zuerst den Zustand der Seele, der groß macht im Himmelreich, − Er zeigt sodann die Gefahren und zuletzt die Würde dieses Zustandes.

 Den Zustand der Seele und alles, was Er in diesem Texte lehrt, zeigt unser HErr am Beispiel eines Kindes, welches Er in die Mitte Seiner Jünger stellt. „Wenn ihr nicht umkehret, spricht Er, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ Hiemit sagt unser HErr noch nicht, wie man im Himmelreich groß werde, sondern Er zeigt bloß an, daß der Zustand, in welchem Männer und Erwachsene zu sein pflegen, nicht bloß alle Größe im Himmelreich, sondern die Männer und Erwachsenen selbst vom Himmelreich ausschließe; sowie, daß an den Kindern im Gegentheil ein Zustand warzunehmen sei, der zum Eingang ins Himmelreich tüchtig mache, und ohne welchen man keine offene Thüre hinein finde. Von diesem nämlichen Zustande sagt aber der HErr dann auch im vierten Verse, daß er den Menschen groß mache, wenn ihn jemand im ausgezeichneten Maße besitze. Was zum Himmelreich und zum Eingang in dasselbe befähigt, dasselbe macht auch groß im Himmelreich. Soll man nun diesen Zustand mit Einem Wort bezeichnen, so kann man ihn als bildsame Hingabe an den Erzieher, als einfältige Uebergabe in die Hand des Lehrers und Meisters bezeichnen, − oder kurzweg als Einfalt im Wachsen und Werden. Denn was ist der Unterschied zwischen dem Mann und dem Kinde, wenn nicht, daß jener geworden ist und dieses erst wird, daß jener keinen Lehrer und Erzieher mehr hat, dieses aber, das Kind, es völlig in der Ordnung findet, gelehrt und geleitet zu werden und dem Lehrer und Erzieher unterthan zu sein?! Zwar sind auch die Kinder gar oft widerstrebend, unartig, unlenksam; aber es ist eben nicht von den Fehlern des Kindes, sondern vom Unterschied des Kindes und Mannes, von rechter Kindesart die Rede, − und der HErr scheint deshalb auch ein Kind von besonderer Liebenswürdigkeit, ein recht kindliches und einfältiges, lenksames Kind ausgesucht und in die Mitte der Jünger gestellt zu haben. Die Ausdrücke: „Wer sich selbst erniedrigt, wie dies Kind“ − „wer ein solches Kind aufnimmt“, scheinen darauf hinzudeuten.

 Wenn nun der HErr die Kinder, insonderheit jenes gesegnete Kind unsers Evangeliums den Jüngern und Männern zum Muster aufstellt, so ist Seine Meinung nicht, daß Kindesart und Kindeseinfalt über alle Mannesart zu erheben sei. Daß das Kind ist, wie es ist, gereicht seinem Schöpfer, nicht aber ihm zum Lobe, es ist kindlich von Natur, so wie die Blume von Natur lieblich ist. Was aber jemand von Natur ist, kann wohl einem andern zum Spiegel, zur Lehre und zum Beispiel dienen, aber es braucht deshalb nicht an und für sich selbst das Höchste und Trefflichste zu sein. Wenn der HErr die Art des Kindes für das Höchste erkennete, was Menschen haben und besitzen können: warum bleibt denn der Mensch nicht Kind zu Gottes größerem Preise? Es ist eben die natürliche Kindesart zum Beispiel aufgestellt, so wie man auch Tauben und Schlangen in ihrer natürlich angeborenen Art den geistlichen Menschen zum Beispiel aufgestellt findet, ja wie man die Kinder der Welt den Kindern

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/515&oldid=- (Version vom 31.7.2016)