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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Reformationsfeste.
Matth. 21, 12–14.
12. Und JEsus gieng zum Tempel Gottes hinein, und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel, und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer. 13. Und sprach zu ihnen: Es stehet geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus heißen; ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht. 14. Und es giengen zu Ihm Blinde und Lahme in den Tempel, und Er heilete sie.

 DAs ganze Jahr hindurch habe ich euch, meine Brüder, die seit vielen Jahrhunderten eingeführten Texte an Sonn- und Festtagen ausgelegt, und ich will es euch gerne gestehen, daß ich es für eine große Weisheit der lutherischen Kirche halte, daß sie diese altherkömmlichen Texte festgehalten und die Textwahl nicht dem Ermeßen des jeweiligen, in der Kirche herrschenden Geistes, geschweige dem der einzelnen Prediger überlaßen hat. An stehenden, sich von Jugend auf einprägenden Texten lernt das Volk, deßen Heil wir mit unsern Vorträgen zu suchen haben, die mancherlei Gnade und den ganzen Rath Gottes viel leichter als an mancherlei, immer wechselnden Texten die Eine Wahrheit. Heute aber, meine Brüder, verläßt mich meine Handleitung, denn es hat sich seit dreihundert Jahren kein evangelischer Abschnitt, als für das Gedächtnis der Reformation besonders passend, eine allgemeine Geltung verschaffen können. Die Textwahl war also diesmal meine Sache. Ich wollte nun gerne so wählen, daß mein Text sich den übrigen Evangelien des Kirchenjahres gleichartig anreihte, daß keinerlei Witz, noch Muthwille, sondern allein das Verlangen, das heilige Werk der Reformation mit einer passenden, biblischen Inschrift aus den Evangelien zu krönen, und dem Volke, dem ich zu predigen habe, die edelste Schätzung und Würdigung desselben an Hand zu geben, an der Textwahl erkenntlich wäre. Ob mir das gelungen, weiß ich selber nicht. Vielleicht rechtfertiget ihr meine Wahl, nachdem ihr die schlichte Auslegung und Anwendung vernommen habet, welche ich nun beginnen werde. Es wäre mir leid, wenn der euch verlesene evangelische Abschnitt unpassend erfunden würde; denn meines Erachtens ist der Text und nicht die Predigt die Hauptsache von dem, was ein Pfarrer auf der Kanzel spricht.

 Unser Text ist ein Theil aus der Geschichte des Palmsonntags. Als der HErr unter dem Hosiannageschrei Seiner Jünger und des Volkes in Jerusalem eingeritten war, begab Er sich zum Tempel. Wir wißen, daß Er mitten unter dem Jubel der Seinigen bittere Thränen über das zukünftige Loos Jerusalems und des jüdischen Volkes und über die Blindheit des letzteren rücksichtlich seines wahren Friedens und Heiles vergoßen hatte. Es ist nun, als sähe man bei der Geschichte, die sofort im Tempel sich ergab, die Thränen noch in Seinen Augen und auf Seinen Wangen, und ich kann mir nicht anders denken, als daß Er durch die gewaltsame Reinigung des Tempels, welche Ihm schon als anerkanntem Propheten, geschweige als dem Menschensohne zustand, den Juden auf eine nachdrückliche Art habe zeigen wollen, was geschehen müße, wenn der herrliche Tempel und die heilige Stadt dem Unglück und Untergang, der schon für sie bestimmt war, entgehen und das Volk selber im Neuen Testamente die Stellung und Herrlichkeit finden sollte, welche ihm gegönnt war. Der Ernst der Handlung war nur ein starkes Auftreten der Gnade, und es wäre zu wünschen gewesen, daß das Volk auf den merklichen Wink mehr geachtet hätte. Der Wink mußte desto auffallender und konnte desto verständlicher sein, weil Christus dieselbe Austreibung nach Joh. 2. schon einmal, in der ersten Zeit Seiner Amtswirksamkeit vorgenommen hatte. Der Anfang und das Ende Seines Amtes war Tempelreinigung. Da mochte man nun bloß an das äußere Tempelhaus gedenken, oder den

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/519&oldid=- (Version vom 31.7.2016)