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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Leibes Christi, welche wir aus den bisherigen Evangelien des Kirchenjahres kennen lernen konnten. Diese wenigen Personen waren durch keinerlei Vorzüge dieser Welt ausgezeichnet. Wer war Simeon? Vielleicht nicht einmal Priester, obschon er Marien und JEsum gesegnet hat? Wenigstens haben wir darüber nichts Gewisses. Die Prophetin Hanna war eine alte Wittwe, welche außer dem hohen Alter, das sie erreicht hatte, nichts besaß, was die Welt, ich will nicht sagen hochgeachtet, sondern nur beachtet hätte, − und auch das hohe Alter war wol kein Vorzug, den die Welt in Anschlag brachte. Von Maria und Joseph und den Hirten ist in diesen Tagen ohnehin oft genug die Rede gewesen, so daß wir nicht erst heute nachzuweisen brauchen, wie wenig von der Welt geschätzte Hoheit ihnen anhieng. Von den andern wenigen Gläubigen und ihrem Stande wißen wir nichts, eben darum aber auch nichts, was uns in der Meinung irre machen könnte, die damalige Kirche habe aus unansehnlichen Leuten bestanden. − Nichts desto weniger bleibt es aber dennoch wahr, daß jene kleine von der Welt nichts geachtete Kirche eine höchst würdige und herrliche Versammlung gewesen ist. Eine Jungfrau ohne Gleichen, − Joseph, einen Mann, dem auch kein zweiter zur Seite stehen wird, − einen Greis von wunderbarer Art, voll Todeslust und Sehnsucht nach der ewigen Heimat, − eine Wittwe gleich dem Greise des heiligen Geistes voll, von welkem Leib, aber im höchsten Alter eines jungen, fröhlichen, seligen Herzens und voll schäftigen, emsigen Thuns und Redens zum Preise JEsu, − diese sehen wir heute im Tempel. Simeon singt der Sonne, deren Aufgang noch niemand sieht, als die wenigen Auserwählten, seinen unsterblichen Schwanengesang, die greise Hanna im Namen des alten Testamentes und aller seiner Heiligen antwortet darauf, Maria und Joseph horchen voll seliger, tiefer Verwunderung dem allen zu, selbst voll Lobes und Preises. Hohe Gedanken sind es, welche diese kleine Versammlung im Tempel zu Jerusalem bewegen. Sie ist zu gering und zu arm, zu demüthig und zu bescheiden, zur Hälfte jeden Falls zu alt, um zu schwärmen; ihre Gedanken liegen auch weit über den Bereich der Schwärmerei hinaus und es ist drum nichts anderes, als der Geist des HErrn, was sie erfüllt. Der thut ihnen die Augen auf und läßt sie in dem Kinde auf den Armen der Jungfrau „den Mann, den HErrn“ schauen, auf welchen schon Eva gewartet hatte; der offenbart ihnen den Lebenslauf des Knaben voll Kampf, voll Mühe und Leiden, aber auch voll Sieg, voll Frucht und Wirkung auf die ganze Welt. Die Mühsal ihres kleinen Lieblings, welche sie schauen, hätte sie erschrecken und betrüben können, aber der Sieg tröstet sie wieder. Sie finden, daß der Lauf im Ganzen ein Siegeslauf ist; sie schauen nicht auf den Anfang und das Mittel, sondern auf das Ende; sie wißen, was mit dem Kindlein in Zeit und Ewigkeit werden soll − und der Blick aufs Ende, der Eindruck des Ganzen macht sie so fröhlich. Der Gedanke des Schwertes, welches die heiligste Mutter durchdringen soll, ist nicht vermögend, ihre Freude in jenen Augenblicken zu ertödten. Sie freut sich mit Joseph, mit Simeon und Hanna, legt mit ihnen alles in die Hand Deßen, der die Weißagung gab und die Erfüllung bringen mußte. Sie feiern ein Zusammensein voll unaussprechlicher Freuden, eine Stunde der Anbetung, welche sie ewig nicht vergeßen können. − Und auch nachdem diese Stunde verronnen war, erscheinen diese Heiligen derselben werth. Es bleibt ihnen keine Unordnung des Gemüthes, kein Uebermuth, kein Dünkel, keine falsche, keine fleischliche Anhänglichkeit zurück. Was hätte leichter geschehen können, als daß Maria und Joseph Anstalt gemacht hätten, mit dem so klar erkannten Kinde im Tempel oder doch in der Nähe des Tempels zu bleiben, in dem ihnen so wohl geworden war und welcher die angeborene Wohnung dieses Kindes zu sein scheinen konnte? Und was wäre leichter zu entschuldigen gewesen, als wenn Simeon und Hanna, von Lieb und Sehnsucht getrieben, JEsu hinab in Seine Herberge und gen Nazareth gefolgt wären? Aber nichts von dem. Maria und Joseph trachten einfältiglich dahin, wohin ihr Beruf sie führt, zum stillen Haushalt in Nazareth. Simeon und Hanna bleiben, wo sie zuvor gewesen; die unschuldige Gestalt des Kindes, die Nähe des Erniedrigten ists nicht, welche ihr Herz erfüllt; ihr Glaubensauge hat mehr erkannt, Seine ewige Herrlichkeit ist ihnen geoffenbart; ihr Herz hat genug für diese Welt; heimwärts sich zu schwingen, dem Menschensohne in Seine Herrlichkeit voranzugehen wünschen sie; ihr ganzes Herz spricht sich in den Worten aus: „HErr, nun läßest Du Deinen Diener im Friede fahren.“ − Sind das nicht höchst würdige Menschen, liebe Brüder? Ist das nicht eine herrliche Versammlung? An Niedrigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 041. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/52&oldid=- (Version vom 22.8.2016)