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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wählen, welcher genau und dem Wortlaut nach zur Feier paßte. Aber jene große Weisheit, welche das Altertum bei den Textwahlen im ganzen Kirchenjahre bewies, zeigt sich nichts desto weniger besonders in der Wahl des heutigen Textes glänzend. Denn was in aller Welt könnte für den Kirchweihtag paßender, was tiefer aus dem Herzen der feiernden und jubelnden Gemeinde gesprochen sein, als die Worte des HErrn JEsus: „Ich muß heute zu deinem Hause einkehren. Heut ist diesem Hause Heil widerfahren; denn des Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Gesegnet seien die lieblichen Worte und der HErr segne unsre Seelen, wenn wir nun miteinander die Frage beantworten: „Was hat dieß Haus, unsre liebe Kirche, und ihre Weihe mit dem Hause Zachäi und dem Besuche JEsu in Zachäi Haus gemein?!

 Laßt uns der Vergleichung pflegen und uns miteinander freuen, wenn wir viel Aehnlichkeit zwischen diesem Hause und dem Hause Zachäi, zwischen unsrer Kirchweihe und dem Besuche des HErrn in Zachäi Hause finden werden.

 Dieß alte Haus, in dem wir uns heute versammelt haben, ist fürs erste von eben solchen Händen erbaut worden, wie das Haus Zachäi. Seit dem dreizehnten Jahrhundert ist bald dieß, bald jenes Stück dieser Mauern neugebaut worden; mancherlei Zeiten und Menschen haben am Bau geändert und gebeßert. Aber so verschieden die Menschen waren, welche dieß Haus auf seinen gegenwärtigen Stand gebracht haben, und so verschieden sie alle wieder von den Bauleuten waren, die im fernen heiligen Lande zu Jericho Zachäi Haus bauten: in Einem gleichen sie einander alle: sie waren Sünder und wie sie selber unvollkommen und gebrechlich waren an Heiligkeit und Tugend, so ist auch das Werk ihrer Hände hier wie in Jericho ein unvollkommenes geworden. Kann sein, das Haus Zachäi zu Jericho war prächtiger und köstlicher, als dieß arme Haus; so groß aber der Abstand zwischen beiden sein mag, der Abstand aller beiden von der vollkommenen Hütte und den ewigen Wohnhäusern des Friedens wird für beide so ziemlich der Gleiche gewesen sein.

 Die Bauleute unserer Kirche und die von Jericho waren also einander ähnlich. Eben so sind auch die Besitzer, die in beiden Häusern ein- und ausgiengen oder gehen, einander gleich. Zwar Zachäus war ein Oberster der Zöllner und wir sind weder Zöllner, noch Oberste der Zöllner; Zachäus war reich und wir sind größten Theils arm; aber Sünder sind doch beide, Zachäus und wir. Wir haben nicht gesündigt, wie Zachäus, denn ein anderer Stand bringt andere Sünden; aber vor Gottes und JEsu Augen sind wir dennoch einander alle gleich, Sünde ist Sünde, und haben wir so nicht wie Zachäus gesündigt, so wars doch anders; gewis nicht seltener, nicht leichter haben wir gesündigt. − In der Sünde sind wir also Zachäo gleich. Ob wir ihm auch in der Heilsbegier und im Verlangen nach JEsu gleich seien, ist der Prüfung heimzugeben, und wohl zu vermuthen ist es, daß vielen ihr Gewißen den Platz nach Zachäo anweisen werde. Zachäus, obwohl ein Oberster der Zöllner und reich, scheut sich doch nicht, auf den Maulbeerbaum zu steigen und damit etwas Auffälliges zu thun, nur um des HErrn ansichtig zu werden und Ihn mit seinen Blicken zu erreichen. Dieß zeugt doch jeden Falls von einem großen Verlangen und Zuge zu JEsu, zumal wenn wir es im Zusammenhange mit allen den andern Merkmalen nehmen, welche sich sonst von diesem Verlangen und Zuge im Evangelium finden. Ob nun wir irgend unser Verlangen nach dem HErrn, wenn auch nicht durch Auffälliges, doch durch solche Dinge bewiesen haben, welche niemanden auffallen, sondern uns nach allgemeinem Zugeständnis geziemen würden, ob wir, um etwas Kleines anzuführen, nur z. B. von unsern Sitzen hier in diesem Hause so eifrig und begierig auf unsern HErrn und Sein heiliges Wort die Blicke gerichtet haben, wie Zachäus die seinen vom Maulbeerbaum?! Diese Frage mag der Beantwortung eines jeden überlaßen sein. Der Geist des HErrn, der alle Dinge weiß, laße uns in der Antwort nicht irren, sondern prüfe uns und erfahre uns, wie es um uns steht, demüthige uns durch Erkenntnis der Wahrheit und führe uns auf die ebene Bahn, − Hier hätten wir also schon einen Punkt, in dem unsere Aehnlichkeit mit Zachäo zweifelhaft sein könnte. Der Zweifel dürfte sich aber noch steigern, wenn wir das weitere Verhalten Zachäi betrachten und mit dem unsrigen vergleichen. Zachäus war nicht bloß heilsbegierig, sondern alsbald, sowie er JEsum freundlich und huldvoll sah, zu allem Guten willig. Es möchte wenige unter uns geben, auf welche die Freundlichkeit des

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/524&oldid=- (Version vom 31.7.2016)