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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gewöhnt, dennoch nach einer großen Erhebung so demüthig, über das eigene fernere Verhalten so klar zu bleiben und nach der hohen Auszeichnung Gottes in so friedlicher Stille!? −

 Stehen wir ein wenig, meine Brüder, lernen wir etwas aus dem Gesagten. War die Kirche einmal − in jenen Kindestagen unsers HErrn − so klein und dennoch Gottes Kirche, warum sollte Kleinheit, wenn sie je wieder einträte, uns an ihr irre machen? Bedurfte sie jenes mal keines weltlichen Glanzes, um Seine Gnade zu erfahren: warum sollte zu anderen Zeiten ein geringes Kleid und Mangel an Ansehen vor der Welt beweisen können, daß des HErrn Gnade von ihr gewichen sei? Konnte sie damals, wo doch erst ein Morgenroth der Erkenntnis ins Auge der Gläubigen gekommen war, trotz aller Kleinheit und geringen Zahl voll himmlischer Freuden sein: warum sollte sie jetzt, da ein heller Tag der Erkenntnis über ihr leuchtet, der Freude mangeln − und aller jener Tugenden, der Demuth, der bescheidenen Ruhe, der himmlischen Gesinnung? Und ist der HErr und Sein heiliger Geist damals in ihrer Mitte gewesen, wo doch noch Niedrigkeit und Entäußerung Seiner göttlichen Gestalt ihm geziemte, wo sich der heilige Geist noch nicht mit Strömen Seiner Gaben über Christi Glieder ergoß: warum sollte der HErr nicht jetzt unter den Lobgesängen Seiner Kirche wohnen, da Er doch alles in allem erfüllt, da Sein Geist in alle Lande ausgeht, um Seine Schafe herbeizuführen?! Klein oder groß, unbeachtet oder hochgeachtet, − immer ist sie doch Seine Braut, welcher Er Bestehen, Segen und Sieg bis ans Ende verheißen hat, bei welcher Er selbst wohnt, über welcher Seine Engel singen, in welcher Seine Propheten weißagen − und Seine Freude wohnt. Wenn wir, ach wenn wir nur zu ihr gehören, Glieder an Seinem Leibe und gläubige Theilhaber an Ihm und Seinem Geiste sind! Das ist genug zum Leben und zum seligen Sterben.


 2. Haben wir nun vernommen, was unser Text von der Kirche erzählt, so wollen wir auch sehen, was er von JEsu Christo sagt. Weniges von Seiner Kindheit, mehr von Seinem Wachstum, am meisten von der großen Bestimmung Seines Lebens lesen wir.

 Ein „Kindlein“, dem HErrn in Seinen Tempel hinaufgebracht; eine Erstgeburt, ein Söhnlein, nach dem Gesetz gelöst mit einem Opfer wie es Moses befohlen hatte, − das ist JEsus zur Zeit der Geschichte, die zum Theil in unserm Text erzählt wird. Dieß Kindlein ist es, von welchem Jahrhunderte lang in diesem Tempel gesagt und gesungen worden war. Von Ihm, ja von Ihm hatte Maleachi geweißagt: „Bald wird kommen zu Seinem Tempel der HErr“, − und siehe, nun ist in Ihm und an Ihm des Propheten Wort erfüllt. Da ist Er im Tempel, Er durch Deßen Anwesenheit dieß zweite Haus des HErrn herrlicher werden sollte als das erste, welches Salomo erbaut hatte. Den Tempel Salomonis besuchte der HErr in einer prächtigen Wolke; zum zweiten kommt Er in menschlicher Gestalt, vereinigt mit einer heiligen und unbefleckten Menschenseele, in einem reinen, unschuldigen Menschenleibe. Fleischesaugen mögen Gottes Gegenwart in der Wolke herrlicher gefunden haben, Geistesaugen ruhen mit größerer Lust und mit Anbetung auf der Erscheinung Gottes im Fleische und auf dem Besuche Immanuels im Tempel, wie wir ihn heute lesen. Aber freilich nur von Geistesaugen, nur von Augen, welche der Geist des HErrn geöffnet hat, gilt dieß. Es ruht auch über dem heiligen Kinde ein Dunkel, und eine Wolke der Niedrigkeit umgibt es. So wenig die Hirten das Kind in der Krippe erkennen konnten als Immanuel, wenn nicht Gottes Klarheit, der Engel Predigt und Gesang es verklärte; so wenig konnten Simeon und Hanna den Knaben auf Mariens Armen, Maria und Joseph den Knaben auf Simeons Armen als den HErrn der Herrlichkeit erkennen, wenn nicht der Geist der Weißagung offene Augen gab, den verhüllten Fürsten des Lichtes zu erkennen. Selig darum die erleuchteten Augen des Verständnisses, welche im Knäblein den sehen konnten, der er war! Die verstanden auch den Gang des HErrn zur Darstellung im Tempel − und sie wurden zu Zeugen genommen für die Erfüllung der Weißagung, die auf jene Stunde im Tempel gedeutet hat! An ihnen geschah und wurde wahr, was auch sonst fest steht, daß des HErrn Ergehen, Thun und Laßen nur von denen recht erkannt wird, die Seine Person erkennen.


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 042. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/53&oldid=- (Version vom 22.8.2016)