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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sind doch recht arm! Wir wißen, daß wir lieb haben, und daß die Liebe von Dir ist, aber wir bitten doch, vergib uns unsre Schulden, und sehnen uns, völlig vereint zu sein mit Dir, auf daß unsre Armuth erstattet werde durch Deinen Reichtum. − Und doch? Es ist wahr, wir sehnen uns nach Dir, − aber es ist doch ein Zagen vorhanden. „Die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“ Wir wißen es, aber es gibt eine Furcht, die Luther im Catechismus mit der Liebe gattet, und die nicht fehlen darf; denn wir sollen Dich ja ewig anbeten, loben, preisen − und das kann keiner, er habe denn bei der Liebe die Furcht. Gib mir die Furcht, die da bleibt und die Liebe nicht vertreibt und von der Liebe nicht vertrieben wird; aber nimm mir mein Zagen, mein sündlich Zagen, daß ich Deine Liebe faßen und lieben kann, wie ich soll, − daß ich Freudigkeit habe am Tage des Gerichts − und auf den Tag des Todes und Gerichtes mich freue. Hilf mir dazu, Du Schrecklicher, der Du der schönste bist unter den Menschenkindern und bei Deiner Kirche wohnen wirst, geliebt und gefürchtet über alles!


Am zweiten Sonntage nach Trinitatis.
1. Joh. 3, 13–18.

 WIr wißen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind,“ sagt Johannes. Man kann es also wißen, daß man aus dem Tode ins Leben, d. i. ins neue, ewige Leben gekommen ist! Man kann es wißen, daß man wiedergeboren ist für ein ewiges Leben! Und da von dieser Wißenschaft Ruhe und Zuversicht der Seele abhängt, so soll man es wohl auch wißen; denn Gott gönnt den Seinen die freieste Ruhe und die mächtigste Stärke! − Wie wunderlich und verkehrt ist also der Mensch, der so oft es für eine Art von Demuth und Bescheidenheit hält, nicht zu wißen, wie es inwendig mit ihm steht, − oder gar, es zu verläugnen! Es mag diese Verkehrtheit wohl meistens ihren Grund darin haben, daß der Mensch gerne im Ungewißen bleibt, weil er ahnt: die Gewisheit dürfte für ihn keine angenehme sein, wenn er sie gewänne. Die Freude am Ungewißen könnte deshalb wohl auch meist in Hochmuth und Trägheit des Herzens ihren innersten Grund haben. Man wäre gerne etwas ohne Mühe, ohne Arbeit, ohne Leiden, ohne Kopfbrechen und Herzbrechen, und weil das nicht angeht, so untersucht man gar nicht, wie es mit einem steht, und bemüht sich, zu glauben, man sei schon etwas, da man doch nichts ist.

 Armes, menschliches Geschlecht! Betrogen willst du werden und wendest alle Mühe an, um recht in Selbsttäuschung und Selbstbetrug zu kommen. Du ringst mit dem Starken, der von Gott ausgeht und Gott ist, einen umgekehrten Kampf Jacobs. Wehe dem, der hierin Israel heißen und den Sieg davon bringen wird! Wehe dem, der fest wird in dem Glauben an sich und sein Heil, während im Himmel sein Name aus der Liste der Seligen gestrichen wird!

 Man sagt: „man kann wißen, daß man aus Gott geboren ist; aber woran kann mans wißen und erkennen?“ Ich antworte: Sieh in die heutige Epistel. In ihr starrt die Antwort wie ein Fels. „Wir wißen, daß wir aus dem Tode ins Leben gekommen sind, spricht Johannes, denn wir lieben die Brüder.“ Wenn du die Liebe zu denen hast, die der ewige Vater liebt, so bist du Sein Kind. Im Gegenstand der Liebe mußt du mit Ihm einig sein, wenn du Sein Kind und Seines Geschlechtes sein sollst und willst. Im Gegenstand mußt du mit Ihm einig sein − und in der Art der Liebe desgleichen. Bei dem HErrn ist Liebe − ein Gedanke, aber auch eben so gleich Wort und That. Gleichwie die Liebe bei Ihm ist, so bei Seinen Kindern. Sie weihen nicht blos ein Glied dem Dienste der Liebe, sondern den ganzen Leib, ja Leib und Seele. Wie die Seele im Leibe überall ist, so ist die Liebe überall, in allen Kräften Leibes und der Seele bei den Kindern Gottes. Durchdrungen sein von Liebe − das ist Liebe − das ist Zeichen der Gotteskindschaft.

 Eine Hoheit des Lebens ist hierin angedeutet, die wir nicht haben! Eine schreckliche Wahrheit geht uns in die Augen, wenn wir die Sache so betrachten! Großer Gott, wenn nicht sein, was wir sein sollen, uns zugleich die Gewisheit wäre oder gäbe, daß wir auch nicht werden können, was wir sein sollen; so

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/535&oldid=- (Version vom 1.8.2018)