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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gräber, unsre Verwesung zudeckt. Aber sie stillt die Seele nicht, denn sie ist selber nicht einmal ein Bild der ewigen Stille und der freudenvollen Ruhe. Die Eitelkeit, der Gang zum Untergang ist ihr allenthalben abzumerken. Es gibt Menschen, die entzückt in die Natur des Sommers sehen, die hingerißen werden, wenn sich der blaue Himmel auf grünen Gräsern in hellen Thränen spiegelt und die Sonne den Thautropfen den Glanz unzähliger Diamanten verleiht! Aber sie wißen zum Ausdruck ihres Entzückens doch nur ein Ach zu finden und eine Thräne − und wenn sie ihre Freude in vollen Zügen getrunken haben, rufen sie: „Schade, daß man nur einmal lebt!“ Sie fühlen, daß in der Natur die Vollkommenheit der Freude nicht ist. Es gibt Menschen, welche für die Natur und ihre Schönheit im Ganzen und Einzelnen so empfänglich, als andere sind. Aber sie werden vom Untergang der glühenden Abendsonne an Gräber, vom Aufgang des blitzenden Gestirns an den Tag der Ewigkeit erinnert. Ein tiefer Ernst wandelt sie an, wenn sie die Natur beschauen. Ihre Sehnsucht nach dem Ewigen und ihres Leibes Erlösung erwacht am Liede der gefallenen Schöpfung. Auch was sie bewegt ist eine tiefe Wahrheit − und es hält im Ernste, den sie haben, Freud und Leid der Beschauung das Gleichgewicht. Es gibt auch andere, ob sie weniger, als die vorigen empfänglich sind, bezweifle ich. Ich glaube, es ist ein Uebermaß von Empfänglichkeit, − ein Verlust des Gleichgewichts auf die traurige Seite hin, was sie ergreift. Sie können eine Blume, eine stille Au, einen frischen Hain, der Lerche Gesang genießen. Aber sie fliehen jammernd vor der Herrlichkeit rheinischer Festgelände und die Macht der glühenden Alpen vertragen sie nicht. Was das Ach des Entzückten ahnt, der Ernst des Gewogenen faßt, das überwältigt die leidgewohnte, zum Leid gestimmte − die misgestimmte Seele, von der ich rede. Es wirkt auf alle drei die Wahrheit unserer Epistel, die man nicht verstehen und doch ein Naturkundiger sein und heißen kann, die man verstehen kann und doch keine genaue Kunde der einzelnen Creaturen haben.

 „Des Leibes Erlösung“ − sie wird ein Signal vollkommener Freude sein. Jetzt geht mein Leib in der Elemente Streit − über ein Kleines, so nagt an der Hand, die das schreibt, die Verwesung, noch über ein Kleines, so hilft mein Gebein die Erde düngen und der es findet, achtet sein nicht. Mein Leib ist bis dahin in Banden. Aber über ein Kleines weiter, dann werd ich auferstehen und mein Leib wird die Frucht der Erlösung genießen! Meines Leibes Erlösung und die Freiheit der Kinder Gottes ist gekommen! Ich werde Seine Heiligen schauen − den ersten, den andern Adam, − alle Seine Heiligen, − und den neuen Himmel und die neue Erde! Dann geht nicht mehr Freud mit Leid, sondern Freud ohne Leid. Dann ist nicht mehr des Leides kleiner Mittelpunkt die Freude, nicht mehr der Freuden starker Mittelpunkt das Leid. Freude herrschet dann bei den Erlösten − Leid in der Hölle, − keine Mischung mehr gibt es dann. − Auf die Freude freu ich mich.


Am fünften Sonntage nach Trinitatis.
1. Petri 3, 8–15.

 DIe Augen des HErrn sehen auf die Gerechten und Seine Ohren auf ihr Gebet,“ sagt Petrus, − und Paulus sagt: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer.“ Nach dem ersteren Ausspruch gibt es Gerechte − sonst sähen die Augen des HErrn auf keinen; nach dem letzteren Ausspruch gibts keinen, auch nicht einen. Ist das nicht Widerspruch? Können denn zwei widersprechende Sätze zugleich wahr sein? Gewis nicht. Aber es ist nicht nöthig, daß die zwei Sprüche sich widersprechen, oder vielmehr, es ist nicht möglich, daß sie sich widersprechen; denn Gott sind alle Seine Werke und Worte bewußt von der Welt her, Er widerspricht Sich Selbst in nichts. − Es ist nemlich ein Wort, was beide Apostel gebrauchen, aber sie gebrauchen es nicht beide in völlig einerlei Sinn. Paulus braucht das Wort „gerecht“ in dem Sinn, welchen das Wort eigentlich hat und haben muß, gleichbedeutend mit „vollkommen“. Petrus erklärt sich einen Vers weiter (V. 13) selbst; „gerecht“ nennt er den, der „dem Guten nachkommt“, d. i. der dem Guten nachjagt. Er braucht es, wie St. Luc. 1, 6. von Zacharias und Elisabeth sagt: „Sie giengen in allen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/537&oldid=- (Version vom 1.8.2018)