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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Je mehr nun das Auge für diese Herrlichkeit geöffnet wird, für diesen unaussprechlichen Gegensatz und Zusammenhang Gottes und der Menschheit in Einem Christus; desto staunender und verwunderungsvoller wird man aber auch insonderheit bei Betrachtung deßen, was unser Evangelium vom Wachstum JEsu sagt. Zwar sind es nur wenige Worte, welche davon reden, aber wie sind sie so wunderbaren, reichen Inhalts! „Das Kind wuchs, lesen wir, und ward stark im Geist, voller Weisheit, und Gottes Gnade war mit Ihm.“ Also war der Sohn Gottes so völlig Mensch geworden, daß er auch völlig Kind war, daß er wuchs wie andere Kinder. Er wuchs − wie andere Kinder, aber freilich doch auch wieder ganz anders. Die heilige, sündlose Empfängnis des HErrn, Seine völlige Freiheit von aller natürlichen Verderbnis der Seele setzte der erziehenden Hand und Führung des göttlichen Geistes kein einziges von allen den Hindernissen entgegen, welche unsre Erziehung hemmen und unsern Fortschritten einen so langsamen, unterbrochenen Gang vorschreiben. Die Stralen der Gottheit, welche in Ihm wohnte, durchströmten unaufgehalten und darum unaufhaltsam JEsu Seele. Da gab es nichts umzugestalten, nichts zu läutern, nichts zu beßern: dieß Kind war ein fruchtbares Saatfeld, besäet mit Gottes wunderbarem Samen alles Guten; so wie der Frühling und seine Kraft, der Geist und die Kraft des Höchsten über es hinwallte, keimte, sproßte, blühte, reifte es, − es wurde ein Schauspiel aller Engel, Seiner heiligen Mutter ein süßes Räthsel, des heiliger Sinn und reicher Inhalt sich mühelos mehr und mehr vor ihr entfaltete. Die Schrift sagt: „er ward stark am Geist, voller Weisheit.“ Welch ein Zeugnis, welche Worte Gottes von einem Kinde! Ein Knabe − ein kleines Kind − und doch stark am Geist, voller Weisheit! Gewis war der HErr kein frühreifes Kind − sonst wäre Er nicht gewesen, was Er gewesen sein muß: die liebenswürdigste Kinderseele. Frühreife ist nicht liebenswürdig. Er reifte, wie Er sollte; war auf jeder Stufe der Kindheit ganz aller Kindheit Urbild: − und doch stark am Geist, voller Weisheit. Wir kennen das nicht, aber es deutet auf ein verlorenes Paradies der Kindheit, das selbst Adam an keinem seiner Kinder sah, weil er es für alle verloren hatte, das einzig und allein am Sohne der Jungfrau offenbar wurde, und um deßen Anschauen wir Marien und Joseph beneiden könnten, wenn solchen Heiligen gegenüber nicht jede Anfechtung des Neides sich in Seligpreisung verklären müßte! − Ganz wunderlich klingt über diesem Kinde JEsus das Wort der Schrift: „Gottes Gnade war mit ihm.“ Unter Gnade verstehen wir sonst Gottes Lieb und Güte gegen die Unwürdigen, die Sünder: da war nun aber kein Sünder, sondern eine heilige Himmelsblume, ein Ebenbild Gottes, ein Urbild aller Menschenkinder − so gab es auch hier keine Gnade in dem gewöhnlichen Sinn. Aber dieß Wort hat eben auch einen weiteren Sinn, heißt Huld und Wolgefallen, Freundlichkeit und wonnige Neigung, wie sie von Gott auf dieß Sein hochgelobtes Kind herunter kommen mußte.

 Es ist nicht recht zu begreifen, warum manche die Nachrichten, die wir von der Jugend JEsu haben, dürftig finden. Einzelheiten, wie sie in apocryphischen Evangelien zu finden, erzählt uns freilich Gottes Wort aus der Jugend JEsu nicht. Aber alles, woran uns gelegen sein kann, Dinge, wodurch dieß Kind über alle Kinder erhoben wird, lesen wir in unserm Texte; die Worte, welche der heilige Geist davon gebraucht, sind einfältig und doch prachtvoll − und zwar so, daß ich nicht weiß, welche von beiden Eigenschaften ich an ihnen mehr bewundern soll. − Ueber Johannem, den Täufer, riefen die Leute: „Was will aus dem Kindlein werden?“ Wie viel mehr konnte man das über JEsum ausrufen! Dieß Kind ist gezeichnet mit den Anzeichen einer gewaltigen Zukunft. So gewis hier ein Kind ist, dem kein Kind zu vergleichen, so gewis wird aus Ihm ein Mann werden, dem kein Mann verglichen werden kann, ein Mann, des Lebensaufgabe so groß ist, daß Himmel und Erde staunen muß, wenn er sie gelöst haben und rufen wird: „Es ist vollbracht.“


 Und das ist es ja eben, wovon unser Text am meisten spricht. Alles übergehend, was zwischen JEsu früher Jugend und der Zeit liegt, wo er geworden, was er werden sollte, zeigt er uns unsern HErrn gleich im Glanze der vollen Bedeutung, die er für die ganze Welt hat. Ich will es versuchen, mit Menschenworten auszudrücken, was der heilige Simeon mit Worten, welche ihn der Geist lehrte, von dem großen Berufe unsers HErrn JEsus Christus gesagt hat.

 Zum Fall und Auferstehen vieler in Israel liegt

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 043. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/54&oldid=- (Version vom 22.8.2016)