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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

genannt. Wir feiern also heute nicht bloß den Beschneidungstag sondern auch den Namenstag des HErrn. Namenstage sind Erinnerungstage an Personen, welche die Namen tragen, und wer eine Person liebt, freut sich ihres Namenstages, der Name mag zur Person paßen oder nicht. Da wir nun niemand mehr lieben und ehren, als unsern HErrn JEsus Christus, so wird uns auch im Jahre kein Namenstag lieber und werther sein, als Sein Namenstag, der JEsustag, zumal der Name so völlig zur Person paßt und von ihrer Würde, ihrem Werke in aller Kürze ein so schönes Zeugnis ablegt. Gleichwie im Zeichen des Kreuzes alle Erinnerungen an Den, der am Kreuze hieng, und an das, was er am Kreuze vollbracht hat, zusammengefaßt werden; so werden alle diese Erinnerungen für das Ohr in dem schönen JEsus-Namen zusammengefaßt und im Laute Seiner fünf Buchstaben erklingt uns das ganze neue Testament, wie in einer Summa. Er ist uns, so oft Er ausgesprochen wird, wie eine „ausgeschüttete Salbe“ und verbreitet einen Geruch des Lebens und der Seligkeit.

 Die schönste Erklärung des Namens gab der Engel, welcher Ihn unter allen Creaturen zuerst auf Erden genannt und Marien und Joseph befohlen hat, ihn dem hochgelobten Kinde beizulegen. „Du sollst“, sprach er zu Joseph, „Seinen Namen JEsus heißen, denn Er wird Sein Volk selig machen von ihren Sünden.“ Also der Name JEsus heißt: „Er wird Sein Volk selig machen von ihren Sünden.“ Das ist die Weißagung, welche vor Ihm hergieng, welche am Tage Seiner Beschneidung auf Sein junges Haupt gelegt und Ihm zugeeignet wird. Das ist die Ueberschrift, Deutung, welche für Seinen ganzen Lebenslauf wie für einen jeden Abschnitt desselben, gleich gut und wohl noch beßer paßt, als jene, allerdings auch große und bedeutungsvolle Ueberschrift des Kreuzes durch Pilati Hand. Sie ist auch deutlicher, unmisverständlicher als diese. Denn wer kann die Worte misverstehen und misdeuten: „Er wird Sein Volk selig machen von ihren Sünden?“ Ein Kind kann aus ihnen die Lebensabsicht JEsu erkennen: sie machen Ihn zur kenntlichsten Person der ganzen Welt. Und wie sagen sie so Großes; es konnte nichts Größeres in so wenig Worten ausgesprochen werden! Und wahrlich, unmöglich war es, mit mehr Sicherheit und Siegesgewisheit, als es in der einfachen Namensgebung geschah, dem HErrn Seine Lebensaufgabe, deren Lösung kaum begann, als eine gelöste zuzuschreiben. Von Sünden retten − selig machen − nicht Einen Menschen, − sondern ein Volk, − Sein Volk, − und zwar Sein Volk, wie es aus Seinen nachmals von Ihm selbst gesprochenen Worten zu verstehen ist, Sein aus allen Zeiten und Ländern zusammengebrachtes, geistliches Israel! Welch eine Aufgabe − ausgesprochen in einem kurzen Namen! Welch ein Name, der über alle Namen ist, der in Einem Athem alle Weißagungen vom Christus Gottes zusammenfaßt und von der Geburt bis zu jenen ewigen Tagen, wo Er dem Vater das Reich übergeben wird, einen jeden Abschnitt der gesammten Zukunft Christi in dem Lichte zeigt, von welchem Er glänzen wird, im Lichte der erlösenden und seligmachenden Liebe! Es liegt nun die ganze Zeit der Erniedrigung und so manche Stufe der Erhöhung Christi bereits hinter uns: aber wenn wir für alles Sein Leiden und Thun, für alle Erniedrigung und Erhöhung einen Namen der Anrufung ausfindig machen sollten, der zu jedem Schritte vorwärts paßend wäre, in den wir unsre steigende Bewunderung und Anbetung ergießen und einströmen könnten: wir fänden keinen, der dazu beßer taugte, als den Namen, welchen der Engel offenbarte: „JEsus, Er wird Sein Volk selig machen von ihren Sünden!“ − Ich will das nicht an solchen Abschnitten des Lebens JEsu nachzuweisen versuchen, deren Gedächtnis durch spätere Festfeiern des Kirchenjahres verherrlicht wird; aber ich will noch eine Anwendung auf diejenige Festzeit machen, deren Schluß wir heute feiern.

 „Er wird Sein Volk selig machen von ihren Sünden“ − das ist ein Menschenname, denn er gehört ja einem Manne, der ein Volk Sein Volk nennt, also selbst von einem Volke stammt und zu einem Volke gehört. Und doch kann der Name kein bloßer Menschenname sein, denn ein bloßer Mensch kann ja nicht von Sünden retten und selig machen, d. i. ein Werk vollenden, welches nicht minder ein Gotteswerk ist als die Schöpfung. Die Deutung des JEsusnamens aus dem Munde des Engels verlangt einen solchen Namensträger, der beides ist, Gott und Mensch. Wie aber soll sich ein solcher Mann finden, der Gott ist, wenn Gott nicht Mensch wird? Er muß Gott sein, mit einem Manne vereinigt, − ein Mann, mit Gott vereinigt, − Gott im Fleisch, wenn der Name paßen soll und der

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 049. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/60&oldid=- (Version vom 22.8.2016)