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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gewesen seien, von denen der geringste fünfzehn tausend Einwohner gehabt habe. Wir wollen nun annehmen, daß Bethlehem auch zu Christi Zeit, wie zu Zeiten des Propheten Micha, klein gewesen sei unter den Tausenden Juda; wir wollen Stadt und Umgegend von Bethlehem uns weit geringer bevölkert denken, als die galiläischen Gegenden; wir wollen sechs hundert waffenfähige Männer und etwa drei oder vier mal so viele Einwohner im Ganzen rechnen, so gäbe es immerhin eine Seelenzahl von achtzehn hundert oder zwei tausend und vier hundert. Bei einer solchen Seelenzahl aber würde durch den Mord aller Knaben, die zweijährig und drunter waren, kein geringes Blutbad angerichtet, kein kleines Unglück gestiftet worden sein. Liebe Brüder, unser Pfarrsprengel zählt etwa neun hundert Einwohner. Auf diese Seelenzahl kommen in zwei Jahren durchschnittlich etwa vierzig Knaben. Ließen wir von ihnen etwa die Hälfte oder mehr sterben, so blieben doch immer noch fünfzehn oder achtzehn Knaben übrig, die zweijährig und drunter wären. Denkt euch nun, es stürben die fünfzehn, achtzehn Knaben alle an einem Tage, wir hätten auf einmal fünfzehn, achtzehn Leichname und Leichen! Denkt euch, alle fünfzehn, achtzehn wären unter den Händen von Soldaten eines gewaltsamen Todes gestorben und lägen mit klaffenden, blutenden Wunden vor uns! − Oder denkt euch noch lebhafter in die Geschichte hinein! Denkt euch, es kämen eines Morgens die Kriegsknechte mit dem Mordbefehl und forderten eure Kindlein. Welch ein Zagen, Weinen, Heulen der Mütter, − welch ein Schmerz, welche Betäubung der Väter, der Verwandten, − wie viel thränenvolles Mitleid anderer, die kein Opfer zu bringen hätten, würde sich finden! Es reicht gewis auch eine wenig erregbare Einbildungskraft hin, ein schauderhaftes Bild vor das inwendige Auge zu bringen. − Und welche Gedanken könnten aus der Seele emporkommen, während ein solches Bild vor die Augen träte! Unverdientes Glück und unverdientes Unglück pflegen großes Aergernis zu geben. Da hebt sich wie unwillkürlich das Auge gen Himmel, um Gott zu suchen und ihn zu fragen. Es regt sich inwendig ein jammerndes Warum, welches fast gegen die Führung Gottes Klage zu führen scheint, und dem HErrn HErrn gegenüber ein gut Gewißen zu haben wähnt. So kommen etwa bei lebhafter Vorstellung des bethlehemitischen Unglücks Fragen, wie diese: Warum hat der Engel nicht lieber Herodis böse That verhindert, statt sie bloß anzusagen? Warum hat er sie nicht wenigstens allen betheiligten Eltern angesagt, da bei Gott und seinen Engeln dieß so leicht gewesen wäre, als die einzelne Ansage, die Joseph geschah? Warum hat Gott diese Grausamkeit zugelaßen? Warum hat Er geschwiegen? Warum war denn jenes mal der Himmel so ehern und trocken über der seufzenden, weinenden, klagenden Stadt Bethlehem und der Gegend umher? − Zwar kann man versuchen, auf diese Fragen eine menschliche Antwort zu geben und Gott gewisser Maßen zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Allein es gibt auch wieder Einwendungen gegen jene Antworten und das ungläubige, zagende Herz wird durch sie nicht zufrieden gestellt. Es ist und bleibt eben doch ein großer Jammer, wenn man nach Bethlehem schaut. Ach, es ist ein großer Unterschied zwischen der Nacht, da Maria ihr Kindlein in Bethlehem gebar und die Engel über den Triften sangen, die Hirten freudenvoll ein- und auszogen in der Stadt, − und zwischen der Nacht, wo der Engel dem Joseph befahl, mit dem Kinde und der Mutter desselben nach Aegypten zu fliehen. Jenes war eine Nacht der Freuden, auf welche ein Tag der Freuden folgte; dieses war eine bange Nacht, aus der ein schrecklicher Tag heraufkam. Dortmals hörte Maria die Worte der Hirten, behielt, bewegte sie in ihrem Herzen und ihre mütterliche Wonne wurde nur desto voller und reicher, je mehr sie dieselben bewegte; aber nun, nun prägt sich der Sterbensanblick weinender Kinder so vielen Müttern ins Herz; was sie behalten und nicht vergeßen können, ist Wimmern und Aechzen, − und so oft sie das bewegen, fließen die Herzen und Augen von Thränen über. Ach wollen wirs nur zugestehen, es war ein rechter Tag des Unglücks und der Schmerzen, der über Bethlehem kam!


 Aber wenn wir das auch zugeben und keinem einfällt, es zu leugnen, so wollen wir doch auch über dem Unglück von Bethlehem nicht das Unglück Herodis so gar vergeßen, wie es gewöhnlich geschieht. Laßt uns dem armen, armen Manne auch einen Blick voll Theilnahme zuzuwenden suchen: wer weiß, ob wirs bis zur wahren, rechten Theilnahme bringen, ob wir schon wollen! Ich weiß, meine Freunde, wenn einer am Schlachttage der unschuldigen Kindlein, nach dem

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 053. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/64&oldid=- (Version vom 22.8.2016)