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wenn ich wünsche, daß ihr alle die Beschneidung des Herzens empfangen möget?


II.

 Die Beschneidung des Herzens ist demnach nichts anderes, als die Heiligung des Herzens – und diese ist gewiß ein rechter Wunsch. Man wünscht einem Menschen, was nicht in unsrer Macht steht, ihm zu geben – man zeigt im Wunsche wenigstens durch Worte ein liebevolles Herz, weil man mit der That es nicht zu beweisen weiß. So ist’s mit der Beschneidung des Herzens – sie steht nun einmal in keines Menschen Macht, gehört deshalb ins Reich der Wünsche und in die Neujahrszeit. – Oder hat es je ein Mensch durch seine Anstrengung dahin gebracht, sich selbst zu heiligen? Wo ist der, dem es gelang? Wohl faßt man am neuen Jahre neue Vorsätze, aber warum faßt man neue, als weil man die alten, welche man am vorigen Neujahr gefaßt hat, nicht auszuführen vermochte, weil die alten untauglich geworden sind, sich als unnütz erwiesen haben? Wenn aber die vorjährigen nichts ausgerichtet haben, was wird es mit den heurigen werden? Werden sie vermögen, auch nur einen einzigen Tag vor dem Bösen, vor der Sünde zu bewahren? Werdet ihr sie halten können? Wird es nicht, wenn ihr nur immer auf dem Wege guter Vorsätze bleibt, auch an euch sich beweisen, daß der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist? Es ist möglich, daß einer sagt: Ich habe so manches Böse abgelegt, seitdem ich einen ernsten Vorsatz gefaßt habe, – ich habe manches Gute durchgesetzt, weil ich es ernstlich wollte. Aber ihr täuscht euch doch. Vielleicht hat einer eine offenbare Sünde abgelegt, aber ist er nun in seinem Herzen reiner geworden, oder sind bloß die Ausbrüche der Sünde weggefallen, während sich die Sünde mit desto geheimerer und stärkerer Kraft ins Herz zurückzog und das Herz vergiftete? Und wenn ihr irgend eine Sünde ablegtet, bildet ihr euch nicht etwas darauf ein, thut ihr euch nichts darauf zu gut? Und wenn ihr das thut, ist nicht euer Stolz um so viel gewachsen, als der Ausbruch der Sünde abgenommen hat? Und ist nicht der Stolz eine