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 Was ist doch das, meine Teuren, was Brüder so innig zusammenhält und was ist für ein Unterschied zwischen der Bruderliebe und jeder andern Liebe? – Es ist, glaube ich, nichts anderes, als die gemeinsame Liebe zu einem und demselben Vater. Nur die sind Brüder, welche von einem Vater oder einer Mutter stammen – und nur die Liebe heißt Bruderliebe, welche die Herzen der Kinder zu ihren Eltern hinzieht. Solange der Vater oder die Mutter auf Erden ist, herbergt die Bruderliebe auf Erden – wenn aber der Vater oder die Mutter auffährt zu ihrem Vater und ihrer Kinder Vater, dann wird für die Bruderliebe der Aufenthalt auf Erden eine sehr drückende Fremdlingschaft. Am Ende zieht alle Bruderliebe aufwärts. Gott ziehe auch uns aufwärts zu der Genossenschaft himmlischer Brüder, während wir von der Bruderschaft reden.


I.

 Es giebt fürs erste eine leibliche Brüderschaft, nach welcher sich die untereinander lieb haben, welche einen Vater und eine Mutter auf Erden haben. Leibliche Geschwister wohnen von Jugend auf unter einem und demselben Dache – und wenn sie älter werden, und ein jedes von ihnen unter sein Dach geht, so ist doch der Segen eines und desselben Vaters und einer Mutter über ihnen, sie gehören zusammen und sind eines Vaters Haus bis zum Grabe und bis sie zu ihren Vätern gesammelt werden. Wenn nun Kinder von der Jugend bis zum Grabe brüderlich einträchtig beisammen wohnen – das ist nach unserm Text fein und lieblich.

 Es ist fein und lieblich vor Gott und vor Menschen. Dies drückt unser Psalm in zwei schönen Bildern aus. – Jerusalem ist auf den Bergen Zion gebaut, und auf einem unter ihnen, auf dem Berge Morija, stand später der Tempel, zur Zeit Davids die Hütte des Stifts. Dort hatte der Hohepriester zu thun. Ein schöner Gedanke ist’s nun, sich einen Morgen zu denken, an welchem man Gottes Tau von dem höheren Gebirge Hermon auf die heiligen Berge Zion gleichsam herabsinken sah, wie Leben und Segen, – und im tauigen Morgen einen eben gesalbten Priester, einen Nachfolger Aarons,