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oder, es ganz kurz zu sagen: Gesetz ist der in den zehn Geboten geoffenbarte Wille Gottes. Wenn darum ein Prediger Gesetz predigt, so thut er nichts, als er legt dem Volke den Willen Gottes vor, so wie er ihn aus den zehn Geboten kennen gelernt hat, er sagt den Leuten, was sie thun und lassen müssen, wenn sie nicht Gott zum Feinde haben wollen. Nun ist es natürlich, daß der Prediger nicht immer die zehn Gebote wörtlich aufsagt, wenn er Gesetz predigt, denn die sollen ja Leute, welche in christliche Schulen gegangen sind, von Jugend auf wissen. Aber er predigt aus den zehn Geboten, in den zehn Geboten ist gar vieles enthalten, und er sagt aus dem weiten Inhalte derselben seinen Leuten eben gerade das, was er sieht, das, was sich gehört, das von ihnen beachtet werden muß.

 Doch ist das noch nicht Gesetz gepredigt, wenn man bloß die Gebote Gottes erklärt, das würde fürs erste so übel nicht genommen werden. Es gehört ein Zweites dazu: der Prediger muß nämlich gemäß dem göttlichen Worte beweisen, daß kein Mensch die Gebote hält, weil der Mensch, so wie er von Natur ist, keinen Willen für Gottes Gebote hat und es mit deren Erfüllung nicht gern genau nimmt. Das nun zu beweisen ist nicht schwer: man hat viele deutliche Bibelstellen, z. B. Röm. 3, und die Erfahrung ist auch dafür, denn es kann kein Mensch auf längere Zeit mit einem andern zusammenleben, ohne die Bemerkung zu machen, daß er den oder jenen Fehler wider Gottes Wort an sich habe. Ja, woher kämen denn die zahllosen Klagen über die böse Welt und das Mißtrauen, welches die Weltkinder selbst in sich setzen, wenn nicht daher, daß eines das andere nicht für gut hält, daß keines von dem andern etwas Gutes erwartet. Also die Leute davon zu überzeugen, daß sie die Gebote nicht halten, d. h. nicht vollkommen halten, ist nicht schwer; davon zeugt schon das gemeine Sprichwort: „Vollkommen ist Keiner!“

 Es gehört aber zur Gesetzespredigt ferner ein Stück, welches den Gemeinden schon härter eingeht. Denn der Prediger muß nicht bloß dem Volke beweisen, daß es die Gebote Gottes nicht hält, sondern auch, daß kein Mensch imstande ist, Gottes Gebote zu halten, wenn er es sich schon vornähme. Er muß aus