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muß doch in den Herzen der Verwandten, Jünger und Weiber eine große Gewißheit von der Heiligkeit des HErrn gewesen sein; denn wäre dies nicht gewesen, so würden sie sich Seiner gewiß geschämt und nicht sich zu Seinem Kreuze hinangedrängt haben. So stehen denn die Seinen von ferne, und das Kreuzgemeindlein lagert bei dem Kreuze. Aus der Mitte dieser Seiner Lieben traten noch näher, dicht unter die Arme Seines Kreuzesbaumes zwei, die Mutter Maria und der Jünger Johannes, den JEsus lieb hatte.

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 Es macht gewiß einen eignen Eindruck, wenn man sich die Mutter JEsu und den Jünger so nahe bei dem Gekreuzigten stehend denkt. Wir sind es von Jugend auf gewohnt, diese Personen uns unter dem Kreuze zu denken; aber man vergegenwärtige es sich lebhaft! Wenn heute ein Missethäter hingerichtet würde, und seine Mutter wollte mit ihm aufs Blutgerüste steigen, so würde das überall, wo es kund würde, das größte Aufsehen erregen. Ebenso ist es hier, und noch viel größeres Erstaunen muß es erregen, wenn wir die Mutter und den Jünger dieses Gekreuzigten bei Seinem Kreuze sehen. Wahrlich, tiefer ist der HErr erniedrigt, als alle Menschen, aber hie und da hat ER doch auch mitten in Seiner Niedrigkeit eine Auszeichnung, die Seiner würdig war. Über Ihm verliert die Sonne ihren Schein, und die Sterne kommen hervor, über Ihm wird der Himmel traurig; unter Ihm, um Ihn her beben die Felsen, die Gräber der Heiligen thun sich auf, die Seinen schämen sich nicht, inmitten eines spottenden, schadenfrohen Haufens unter Thränen von Seinem Ende Zeugen zu werden, und eine namenlose, unaussprechliche Liebe, ein ungeheurer Schmerz der Liebe treibt Seine Mutter, Seinen Freund, unter dem Kreuze Platz zu nehmen und so Genossen Seines Leidens und Vorbilder Seiner heiligen Kirche zu werden. Wir haben ein altes Kirchenlied in unserm bayrischen Gesangbuch,[1] des Anfang ist: „O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn!“ In demselben stehen einige Verse, welche wohl den Heiligen unter dem Kreuze wie aus dem Herzen gesungen sein mögen. Denn, was


  1. Altes Gesangbuch von 1811.