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klingt liebevoller und schmerzlicher, als wenn der heilige Sänger weint:

„Ach! möcht ich, o mein Leben,
An Deinem Kreuze hier
Mein Leben von mir geben,
Wie wohl geschähe mir.“

 Auf den Jünger Johannes und das Verhältnis seines Herzens zu dem Gekreuzigten will ich heute weniger Rücksicht nehmen, als auf das der heiligen Mutter zu ihrem Sohne. Sie steht unter dem Kreuze, sie sieht jeden Schmerz ihres geliebten Sohnes, sie kann Seine Thränen, die wallenden, sich schlagenden Blutstropfen, die tiefen Seufzer Seines gepreßten Herzens bemerken. Sie sieht Seine tiefe Erniedrigung und denkt dagegen an die Verkündigung des Engels vor Seiner Geburt, an die Erzählung der Hirten, an die Anbetung der Weisen. Wie ganz anders ist es geworden! Sie erinnert sich an den Lobgesang Simeons, und nun versteht sie seine Worte: „Es wird ein Schwert durch deine Seele dringen!“ aber es ist ihr auch unbegreiflich, wohin diese dunklen Wege führen sollen, sie weiß nicht, warum sie diesen Mann so wunderbar gebären mußte, wenn es bloß darum war, Ihn ans Kreuz zu überliefern. Sie erinnert sich an Seine schöne Jugend, wie ER zunahm an Alter, Weisheit[1] und Gnade bei Gott und den Menschen, und die Frage: „Daher bist Du kommen von Deines Leibes Kraft!“ drückt sie nieder. Sie erinnert sich an Seinen heiligen Gehorsam, sie findet in ihrem ganzen Geiste nicht, daß ER auch nur die Erinnerung einer Sünde bewahrt hätte: ihr Sohn ist wie keiner, ER folgte Seiner Mutter in allen Stücken, nur nicht, da sie nicht haben wollte, daß ER in dem sein sollte, was Seines Vaters war; nur nicht, da sie sich in Seine Heilandsgeschäfte auf der Hochzeit zu Cana mischen wollte, d. i. nur nicht, wo der Mutter menschlicher Wille mit dem des hochgelobten Vaters im Himmel nicht übereinkam: die Mutter denkt am Kreuze daran, sie erkennt in Ihm einen vollkommenen Heiligen und kann nicht anders, und weiß nicht,


  1. Luk. 2, 52.