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von den Sündern abgesondert und höher, denn der Himmel ist;[1] ER behält das Große im Auge und vergißt das Kleinere nicht; ja, vielmehr, das Kleine ist Ihm groß, ER sieht Seine Mutter am Kreuze weinen. ER erinnert sich, welche Ehre ER selbst von Ewigkeit her dem mütterlichen Namen mitgeteilt! ER erinnert sich, daß eines von den zehn Geboten, die ER auf Sinai gegeben, der grauen Häupter Ansehen ehret und dem Vaternamen Gottes auch in den irdischen Stellvertretern Ehre giebt; darum muß eines Seiner sieben letzten Worte die Mutter ehren, darum muß ER noch am Kreuz das vierte Gebot verherrlichen. Freilich ja! Alle Schafe suchte ER, der fromme Hirte, welches Schaf sollte ER mehr suchen, als das, welches Ihn geboren? Seine Gedanken sind Gedanken des Friedens und der Liebe über alle Kreaturen, Sein Herz ist eitel Segen, Sein Leben verschwendet, Sein Blut vergießt ER vor überschwenglicher Liebe und Barmherzigkeit. Ach! sollte ER die Mutter nicht lieben, die nur in Ihm lebt, deren Leben mit Ihm stirbt, die keine Freude mehr auf Erden hat, wenn ER von der Erde geht, die lieber mit Ihm im Grab, als mit den andern Menschen im Leben wäre? Sein Herz beschließt zu eilen, ehe die Mittagsstunde kommt, ER bestellt Sein Haus, ehe Ihn der ewige Tod überfällt, ER wirft alle Erdensorge ab, ER macht Sein Testament, auf daß ER dem Feind, dem ewigen Tode mit ganzer Seele entgegengehen möge! Sein Auge sucht mit inniger Liebe das Auge Seiner Mutter: ER findet, ER hält es, ER letzt sich an ihrem Anblick, ER dankt ihr, Sein Auge wird größer, glänzender, verheißender, nach Ostern, an Pfingsten, im Himmel, will ER ihr den Dank bezahlen, Sein Auge glänzt majestätisch, ER scheidet von ihr, spricht mit ruhiger, sanfter, tröstender Stimme: „Weib, siehe, das ist dein Sohn!“ und zum Jünger: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Ja! König, Dorngekrönter, Preiswürdiger: so handelst Du! Du hängst nur unter Missethätern, damit um so mehr vor aller Welt erscheine, daß Du kein Missethäter, daß Du oder keiner der Missethäter Heil und Heiland bist! Um


  1. Ebr. 7, 26.