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seine Sünde bezahlen, seine Zunge, sein Herz hüten, Gutes thun, heilig werden, das kann er nicht, auch wenn er’s will; ja, je mehr er sich anstrengt, desto mehr erkennt er, daß es nicht geht, daß nur die Allmacht es kann. Und doch hat er diese Allmacht, d. i. Gott beleidigt mit so viel Sünden, und er muß alle Tage erwarten, daß Gott sich wider ihn kehre, ihn strafe, daß ER seinen Bruder Esau oder den und jenen über ihn schicke, ihn zu strafen. Seine Sünde drückt ihn, die Furcht vor Gott treibt ihn hin und her, es ist ihm sehr bange, und solange diese Schrecken nicht weg sind, solange nicht die Gewißheit einkehrt, daß Gott versöhnt ist, so lange ist kein Friede. Man sehnt sich nach Frieden, aber wo ist er? Gottes Schrecken sind über einen, das ist ein Zustand voll Not und Jammers, in dem man wahrlich Mahanaim oft vergißt und nicht glauben kann, daß man inmitten heiliger Engel und unter ihrem Schutze wandle.


III.

 In der Angst seines Herzens stand dem Jakob auch jene Klugheit bei, welche in seinem Leben ein unterscheidender Charakterzug ist. Er fürchtet sich vor Esau, darum spart er ein gutes Wort nicht, er sendet ihm entgegen, um seinen günstigen Willen für seinen Einzug in sein heimatliches Land zu bekommen, er läßt ihm gleichsam ein Besitztum, er bekennt, daß er mit Recht Friede und Ruhe von ihm nicht fordern könne, er sende aber zu ihm, um Gnade zu finden vor seinen Augen. Diese Klugheit war vereinigt mit herzlicher Wahrheitsliebe, denn in solchen Ängsten und auf dem Wege zu Gott liebt man die Lüge nicht. Dieselbe Klugheit lehrte ihn auch, sich vor Esau vorsehen: er teilt das Volk samt den Herden in zwei Heere, damit, wenn Esau in seinem Grimm auch das eine Heer schlüge, doch etwa das zweite gerettet werden könnte und nicht alle sauer erworbene Habe zu Grunde ginge. Endlich war es auch Klugheit, daß Jakob durch Geschenk seinen Bruder zu versöhnen suchte. Er nahm nämlich zweihundert Ziegen und zwanzig Ziegenböcke, zweihundert Schafe und zwanzig Widder, dreißig säugende Kamele mit ihren Füllen, vierzig