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alle Zeiten, ja in alle Ewigkeiten fortwirkende Kraft des Blutes Christi noch nicht erfahren hat, wird nicht aus Erfahrung glauben. Wer noch nicht unterscheiden kann zwischen der alten Geburt und der neuen Geburt, wer keine Änderung des Innern von Anfang des Lebens her wahrgenommen hat, der glaubt nicht, und weil er nicht glaubt, so liebt er nicht, und weil er nicht glaubt und nicht liebt, kann er nicht beten und wagt’s auch nicht, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm, er lebt ohne Gebet und ohne Leben der Seele fort.

 Doch aber, wenn nun einer glaubt, wenn er liebt, wenn er die Liebe des Vaters erkannt und erfahren hat,


V.
was soll, was darf er beten?

 Für diejenigen, welche glauben, welche lieben, welche die Liebe des Vaters erkannt und erfahren haben, ist es nicht nötig, diese Frage zu beantworten. Sie wissen schon, was sie beten sollen, sie kommen über den Stoff des Gebetes so wenig in Verlegenheit, daß sie ohne Unterlaß beten, daß sie bei der Arbeit, wie in der Ruhe, im Schlafen, wie im Wachen zu beten nie aufhören. Ihr ganzes Leben ist ein ununterbrochenes Seufzen und der Grund aller ihrer Gedanken, ihres Wollens und Liebens zu dem, der sie so hoch geliebt hat. Ihre Seele ist, mehr oder minder brünstig, in beständigem Gespräch mit ihrem Gott. All ihr Denken ist zu Ihm gerichtet, all ihr Wünschen ist beten, all ihr Gefühl ist Liebe und Sprache der Liebe gegen Ihn, all ihr Wollen ist: „nach dir, nach dir, mein Gott, verlanget mich.“ Sie brauchen keine Belehrung mehr, was sie beten sollen. Aber die, welche so weit noch nicht sind, so viel noch nicht von der Liebe Gottes in ihrem Herzen erfahren haben, die wohl gern beten möchten, aber nicht wissen, ob es denn Gott gerade so angenehm sei, wie sie beten könnten: diese bedürfen eines Unterrichts von dem, was sie beten sollen, einer Regel, an welche sie sich halten, eine Ordnung, in der sie beten können, damit ihr schwacher Glaube sich desto sicherer aufrichte und desto schneller durch die Kräfte des Gebetes zunehme.