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können, wird sagen können: Johannes zweifelte. Ja, er zweifelte. Wohl hat er große Dinge erfahren in seinem Prophetenamte, aber im Gefängnis zu Machärus war sein Prophetenamt zu Ende. Die Einsamkeit des Gefängnisses konnte für ihn, der in der Wüste frei umher zu gehen gewohnt war, für sein ohnehin melancholisches Gemüt eine große Versuchung werden. Ja, eben weil er ein großer Prophet war, mußte er starken Anfechtungen ausgesetzt sein, auf daß er erprobt würde. Der Satan wird auch keine Mühe gespart haben, eine solche Säule umzuwerfen; er konnte ihm eingeben: die Gesichte, welche du gesehen hast, waren Einbildungen – das Wunder am Jordan war ein Traum – du bist betrogen, Johannes! Du siehst ja, dieser JEsus will kein Licht der Welt, kein Gotteslamm, keine Sonne der Gerechtigkeit werden, – seine Wirksamkeit ist klein, er lehrt und heilt Kranke, das ist alles. Johannes hätte JEsum gerne schneller zum Ziele eilen sehen, er brannte vor Verlangen, das Reich Gottes im Sonnenschein seiner Herrlichkeit zu sehen – und für ihn war jeder Tag Verzug. Er geriet in Zweifelskämpfe, es hieß in ihm: Ist ER’s oder nicht? Dennoch ist und bleibt er eine große Seele: mitten in seinen Zweifeln blieb es ihm sonnenklar, daß JEsus ein unbetrüglicher und heiliger Mann war. Wie er sich einst vor den Pharisäern bekannt und nicht geleugnet, wie er gesagt hatte: „Ich bin nicht Christus,“ so traute er es auch JEsu zu, daß ER, was ER sei, bekennen würde, – er wollte seine Ruhe bei Ihm selbst holen; nicht zu Seinen Feinden sandte er, sondern zu Ihm und ließ fragen: „Bist Du’s?“ Ein gewisses Zeichen, daß er Lust hatte, zu glauben.

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 Brüder! Wer, der im Christentum lebt, kennt solche Stunden nicht, wo einem alle göttliche Gewißheit verschwinden will vor dem hereinbrechenden finstern Geiste? Mancher hat große Gnadenstunden gehabt, in denen er gern sein Haupt zum Pfand gegeben hätte, daß Gott lebe und um ihn sei; er sah gleichsam den Himmel offen und freute sich Gottes, seines Heilandes, er war neugeboren und frisch, wie ein Tautropfen im Morgenrot. Er konnte beten, und im Gebete war es,