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I.

 Jede Bitte setzt voraus, daß man wisse, was man bittet. Die Jünger möchten gern beten lernen, so mußten sie auch wissen, was beten sei. Das ist nun das Erste, was wir bei der Bitte der Jünger: „HErr, lehre uns beten“ zu fragen haben: „was bitten die Jünger, was heißt beten?“

 Beten heißt kurzum: Gott um etwas bitten. Der Betende steht dem Allerhöchsten gegenüber, der Allerhöchste, der allgegenwärtig ist, vor dem Betenden. Darum sollte es jedem Betenden sein, wie dem Sänger des 119. Psalm, der im 120. Verse spricht: „Ich fürchte mich vor Dir, daß mir die Haut schauert“, denn er steht ja vor dem Angesichte des, der Himmel und Erde neigt und beugt nach Wohlgefallen. Auch sollte jeder Betende in höchster Sammlung der Gedanken, in tiefster Andacht beten. Denn wenn einer nur zu einem Erdenkönig bitten geht, sammelt er alle seine Gedanken auf diesen König hin: der Betende aber steht vor der höchsten und alleinigen Majestät, gegen welche gerechnet alle Majestät irdischer Fürsten zergeht, wie Schnee an der Sonne. Was ich hier sage, das ist gewiß jedem unter euch einleuchtend, Ehrfurcht und tiefste Andacht ziemt dem, welcher vor Gott im Gebete steht! Ich frage euch: wisset ihr, mit wem ihr redet, wenn ihr betet? betet ihr andächtig und ehrfurchtsvoll? oder seid ihr wie die Kinder dieser Welt, welche den lebendigen Gott nicht mehr kennen, sondern einen Gott anbeten, den sie sich selbst erdachten, einen Götzen, der niemandem gleich sieht, als ihnen selbst, vor dem sie sich so wenig fürchten, als vor sich selbst? O prüft euch, ich bitte euch! und bedenket wohl, daß der Gott lästert, der ohne Ehrfurcht betet! Denkt an den Tag, wo der majestätische Gott zum Gericht erscheinen wird, wie werden da erschrecken und zu schanden werden, die Ihn gering geschätzt haben, weil ihre Augen Ihn nicht gesehen haben! Besinnt euch wohl, daß ihr nicht hier und dort Fluch statt Erhörung erntet!