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II.

 Wenn die Jünger bitten: HErr, lehre uns beten! so müssen sie sich selbst nicht zugetraut haben, recht beten zu können. Da sie nun dennoch gewiß schon oft gebetet hatten, so müssen sie ihr früheres Beten noch für kein rechtes Beten gehalten haben, es muß also ein Unterschied sein zwischen Beten und Beten, und es fragt sich: wer kann recht beten?

 Seht, Brüder, es betet die vernunftlose Kreatur in der Not. Denn es steht geschrieben Ps. 147, 9, „daß der HErr den jungen Raben ihr Futter gebe, die Ihn anrufen,“ und Joel 1, 20, „es schreien auch die wilden Tiere zu Dir.“ Ja Röm. 8 behauptet der heilige Apostel, daß die Kreatur, d. i. die ganze Natur seufze nach der Offenbarung der Kinder Gottes, nämlich nach dem Ende der Tage, wo auch sie erneut werden wird. Aber dies Schreien und Anrufen und Seufzen ist ohne Zuversicht, und es kennt das Tier den Schöpfer nicht recht! Das ist das rechte Beten nicht.

 Ferner beten auch unbekehrte Menschen, wenn ihnen eine Not zustößt oder sonst in besondern Fällen; denn auch Gottes Feinde haben eine Unruhe in sich, welche Gott sucht. Ja, man hört oft Menschen, die von Christo JEsu nichts wissen, noch wissen wollen, von Gebetserhörungen erzählen, die man ihnen auch nicht abstreiten kann. Auf Grund solcher Gebetserhörungen bilden sich dann solche Leute ein, daß sie bei Gott in Gnaden stehen, während ihnen nur darum Erhörung geworden ist, damit sie durch Gottes Güte zur Buße geleitet würden. Sie denken nicht daran, daß ER über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte regnen und Seine Sonne scheinen läßt, über Gerechte zum Segen und Wohlgefallen, über Ungerechte aber, damit sie aufwachen und an Gott denken lernen. Sie vergessen, daß Gebetserhörungen bei unbekehrten Leuten, wie alle Erweisungen der allgemeinen Liebe Gottes, unerkannte Wohlthaten des Kreuzes Christi sind. Diese Gebetserhörungen sind eine Mahlzeit, welche der Gekreuzigte mit schwerer Arbeit bereitet hat, von ihr schwelgen die Weltkinder und thun dennoch immer wie Judas, von dem geschrieben steht: „der mein Brot ißt, mit Füßen mich tritt!“ Sie hassen