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HErrn liegt: „Dies Volk naht sich zu Mir mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von Mir.“ Wer bloß mit den Lippen betet, der ist ein Heuchler oder Gleisner, sein Beten lästert Gott und fordert Seinen Zorn heraus. Hierher gehört das Wort: „Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten!“ Denn was anders ist’s, als ein schrecklicher Spott Gottes, wenn du Gott, welcher verlangt: „Gieb Mir, Mein Sohn, dein Herz,“ bloß die Lippen darbringst, als müsse ER mit diesen schon zufrieden sein. – Ich erinnere euch an euren Morgen- und Abendsegen und an euer Tischgebet: wo ist das Herz, während der Mund den Namen JEsu anruft? Wo euer Herz ist, da ist euer Schatz: ist euer Herz bei JEsu, ist ER euer Schatz? Brüder! Überlegt es wohl! Wenn eins fehlen muß beim Beten, so fehle lieber der Mund als das Herz; denn Gott hat auch den Stummen geschaffen, und der hat keine Lippen, während Gott dennoch sein Herz und Herzensgebet verlangt.

 Man kann wohl ohne Mund beten, aber nie ohne Herz. Das sehen wir an Moses, welcher am roten Meere den Mund nicht aufthat in seiner Angst, aber sein Herz betete so laut, daß es in die Ohren Gottes lauter drang, als das Geplärr der Heuchler, und ER vom Himmel rief: „Mose, was schreiest du so?“ (2. Mos. 14, 15). Das sehen wir an Hanna, der Mutter Samuels. Dieselbe war so ins Beten versenkt, daß sie keinen Laut gab und nur die Lippen bewegte vor Inbrunst des Gebets; da ward sie erhört und fand Gnade bei Gott. Das sehen wir an vielen Sterbenden; sie können nicht mehr sprechen, aber ihr Auge, ihre Züge, ihre Gebete, ihre Abgekehrtheit von der äußeren Welt verrät es, daß die heilige Flamme des Gebets ihr sterbendes Leben erheitert. Ja, ein betendes Herz ist die Hauptsache, das schenke uns unser lieber Gott!

 Indes ist das mündliche Gebet gar nicht verwerflich, vielmehr für sehr viele Menschen rätlich. Niemals hat Satan nötiger zu thun, um die Spreu fremdartiger Gedanken in unsern Seelen aufzublasen, als wenn er merkt, daß wir beten wollen. Es ist eine schmerzliche Klage vieler christlich gesinnter Menschen, daß sie im Gebet so viel von Zerstreuung zu leiden