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eine Eintracht, wie die Eintracht der Rebellen gegen ihren rechtmäßigen Herrn.

 Ehe Christus an einem Ort erscheint, zeigen sich mancherlei Tugenden: Sanftmut, Schein der Liebe, Wohlthätigkeit, Weisheit und was sonst. Ehe Christus kam, der in die Herzen schaut, waren die Pharisäer heilige, hochgeachtete Leute. Aber als ER kam – als ER ihnen sagte, daß sie nur übertünchte Gräber seien, nur Schlangen, die von außen gleißen, inwendig aber voll Giftes sind; da wurden diese Herzen offenbar, daß sie Heuchler waren. Sie wehrten sich um ihre eingebildete Gerechtigkeit, wie eine Löwin um ihre Jungen. Sie murrten und zürnten, – sie brüteten und machten einen Rat – sie riefen: „Kreuzige, kreuzige!“ Vor Gabbatha und Golgatha hat man’s gesehen, welch ein Tier unter der schönen Haut war. – Es waren lauter hochgelehrte und angesehene Leute, vor denen Stephanus seinen Schwanensang anfing – von der Juden Herzenshärtigkeit und dem einzigen Liebenswürdigen, unserm HErrn JEsu: da vergaßen sie aber ihren Heuchelschein und ihre Himmelsflügel entfielen ihnen, sie gerieten in Wut, knirschten mit den Zähnen, hielten ihre Ohren zu, schrieen, stürmten auf den heiligen Märtyrer einmütiglich ein – stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Wo war da die Sanftmut – wo die Liebe – wo die Frömmigkeit geblieben?

 So ist’s heute noch, liebe Seelen. Die Predigt des Evangeliums ist der Probierstein aller Herzen. Wie sich ein Mensch gegen sie benimmt, so ist er. Das Evangelium läßt dem Menschen keinen Ruhm, sondern macht alles Verdienst der Werke, der Weisheit und Bildung zu nichts – und wirft’s zu Boden, nur einen läßt es groß, nämlich Christum. Das verträgt eine falsche Tugend nicht. Die Sanftmütigen werden oft Tyrannen, wenn es gegen die Predigt des Evangeliums gilt, – und wenn einer allen mit Liebe begegnet, gegen JEsum Christum schäumt er. Das Evangelium ist ein zweischneidiges Wort, lebendig, kräftig, schärfer, als jedes zweischneidige Schwert, – es dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Menschen – und ist keine