Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Predigten in Nürnberg zu St. Aegydien (2. Auflage).pdf/49

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Gott erschüttert und zu Seiner Liebe erneuert werden sollten.




 Nach diesem Allen rufe ich euch zu: „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ Noch einmal mahle ich euch Christum vor das Auge: Nicht ich stehe vor euch, nein, ein Anderer steht unsichtbar neben mir, gegen den ich bin, wie Barabbas. Nicht mich höret, der ich an Seiner Stätte bitte, aber Ihn höret. Er steht in der Dornenkrone. Seine Stirne träuft Blut, seine Augen Thränen, Thränen vor Schmerz in unsrer Sündenarbeit; Sein Angesicht ist Ihm geschwollen von den Faustschlägen; Sein Leib ist aufgerissen von der mit beinernen Würfeln durchflochtnen Geißel; Seine Wunden und Striemen brennen; Seine Arme, Seine Kniee zittern; Seine Hand vermag das Rohr nicht zu halten; Sein Blut mischt sich mit der Purpurfarbe eines Spottmantels. In solches Alles findet sich Seine Seele mit gefaßter Stille, das trägt Er lammfromm mit Geduld. Schwerer, schwerer drückt es Ihn, daß er voraussieht: die Seinen werden Ihn auch so nicht aufnehmen, da Er, in ein solches Verzagen gesunken, zu ihnen kommt. Wär’ Er ein Mensch, wie andere, so wollte ich schweigen, aber es ist der Angebetete und Hochgelobte, der Friedefürst, das selige Gotteskind, in die Welt gekommen, um sie zu Gottes Herzen zurückzuführen. Den haben unsere Sünden also zugerichtet. Herr Gott, den seh’ ich im Geiste neben mir stehen: Seht, welch’ ein Mensch! rufe ich. Mir entbrennt das Herz über die Kälte der Menschenkinder, fast übermannt mich der Grimm, daß ich rufen möchte: „Wer diesen Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sey Anathema!“ Aber ich weiß, daß Er, der bei mir steht, sanftmüthig und demüthig, im Schmucke Seines Blutes, bittet: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“ „Lernet von mir, lispelt er mir zu, denn ich bin sanftmüthig und von Herzen