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dieses Verlangen einem Durste, ja einem heftigen, anhaltenden, bis zur Erreichung des Zieles unauslöschlichen Durste vergleichen, und es daher geradezu einen Durst, einen geistlichen Durst nennen könnte. Allein, meine Freunde, wenn wir auch den Durst JEsu nach unserer Seligkeit überall finden, und ihn mit allen möglichen Wirkungen des HErrn, ja mit Seinem Athem und Blut, mit Seinem Sehen und Hören, mit Seinem Gehen und der Arbeit Seiner Hände vergleichen können, ihn überall angedeutet und ausgesprochen finden, namentlich auch in den Worten vom Kreuze, auch in dem, von welchem wir heute handeln: was veranlaßt uns denn, gerade bei dem fünften Worte von dem Verlangen JEsu zu reden, wenn nicht etwa das treffende Bild vom Durste? Es hindert uns niemand, den Durst auch bildlich zu faßen und geistlich zu deuten; aber war diese Deutung wirklich am Kreuze diejenige, welche die Seele des HErrn bewegte? Hat Er wirklich die Absicht gehabt, durch die Worte „mich dürstet“ Sein Verlangen nach unsern Seelen kund zu geben? Wollte Er damit geistliche Deutungen veranlassen, oder wollte Er Labung für Seine brennende Zunge? War Ihm in Seiner schweren Pein am Kreuze Sein leiblicher Durst etwa auch zu gering, um ihm eine Aeußerung zu geben? Hat Er von ihm, – der doch vorhanden war, sonst hätte Er ja nicht getrunken, – mehr schweigen, als reden wollen, da Er sprach „mich dürstet?“ Erlaubet mir, dazu ungläubig mein Haupt zu schütteln, und mich, wie in so vielen andern Fällen, so auch diesmal zum einfachen Wortsinn zu bekennen und euch deswegen heute von dem leiblichen Durste JEsu am Kreuze zu predigen.

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