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 II. Man hat oftmals in neuerer Zeit in einem wahren Gegensatz gegen frühere Zeiten die Kreuzigungsleiden geringer darzustellen gesucht. Man hat hervorgehoben, daß ein Mensch am Kreuze tagelang leben könne, bis endlich der Tod erscheine und den müden Pilger ablöse. Man hat damit eigentlich nichts gewollt, als sagen, daß man die Leibesleiden unseres HErrn nicht betonen müße, sondern vielmehr das unverdiente und das stellvertretende in ihnen. Indes ist bei dieser Bemühung doch sehr häufig eine Art von Untreue zu bemerken gewesen, denn eine getreuere Beachtung der Schrift und des Alterthums würde doch zum entgegengesetzten Ergebnis geführt haben. Es ist ja doch wahrlich der ganzen Schrift abzumerken, daß in dem Tode der Kreuzigung nicht blos eine besonders schmähliche und schändliche Art der Hinrichtung, sondern auch eine besonders schmerzenreiche und erbärmliche dargestellt werden soll. Auch gibt es ja einem jeden seine eigne Vernunft, beurtheilen zu können, was das für ein unaussprechlicher Jammer sein muß, an einem Kreuze angeheftet zu sein, und mit brennenden, reißenden Wunden nicht zu liegen, nicht zu stehen, nicht zu sitzen, sondern eben zu hängen und so bei zunehmender Schwere des Todesleibes allen Jammer auch zunehmend und immer schrecklicher inne zu werden. Sollte aber auch jemand, von verkehrter Absicht getrieben, Gedanken finden, um sich die Sache anders und leichter darzustellen, so berichtet uns das Alterthum aus unmittelbarer Erfahrung, die wir nicht mehr haben, weil die Todesstrafe der Kreuzigung abgekommen ist, doch etwas ganz anderes über diese Todesart, und es läßt sich aus den vorhandenen Notizen der alten Zeit nicht blos schließen, sondern auch beweisen, daß die leiblichen Schmerzen der