Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze.pdf/109

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jede Thräne Ihm voraus zugemeßen und bestimmt ist, und Er gerade so und nicht anders leiden mußte, damit wir an Leib und Seele erlöst würden. Da kommen wir denn auch auf dem Wege unserer Gedanken zu dem heißen Durste des sterbenden JEsus, und wir können und dürfen in Anbetracht seiner keine andere Sprache führen, wir müßen sagen und behaupten, daß dieser heiße Durst Ihm insonderheit muß zugemeßen gewesen sein und daß er, so gewis man in ihm die höchste Höhe der leiblichen Leiden des HErrn zu erkennen hat, auch die höchste Höhe Seiner leiblichen Strafen und körperlichen Versöhnungsarbeit bezeichnet. Ist irgend etwas geeignet, ein Bild von allem Verlangen und jeder Begier der Seele zu sein, so ist es der Durst, dieses Gefühl von unaussprechlicher Armuth und Entbehrung und von unnennbarem Verlangen. Unserer Begierden ist keine Zahl, wir verlangen und begehren ohne Ende und können es auch nicht laßen; wir sind so geschaffen, daß wir es nicht laßen können; auch der Fall hat die Sache nicht geändert, nur daß unsere Begier eine andere Richtung genommen. Es geht auch in keiner anderen Sache der Leib mit der Seele so innig zusammen, als in der Begier: der Nerv, das Blut, die Muskel, alle Glieder, alle Sinne – unabläßig sind sie von dem Verlangen der Seele bewegt, Begier und Verlangen trieft von ihnen allen. Daß nun all unsere Begier die verkehrten Wege geht, Seele und Leib nach Verbotenem und Schädlichem Tag und Nacht fragen und sehen und begehren, ja daß bei den meisten Menschen alle Begier der Seele verwandelt ist in die fleischliche Begier, und alle Gedanken nichts anderes sinnen und bewegen, als wie dem Fleische und Leibe die Lust zu büßen sei; – daß schier alles Leben in den