Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze.pdf/54

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hinzugeben, daß Er den Tod erwürge, indem Er sich von ihm würgen läßt. „Weib, siehe, das ist dein Sohn,“ so sagt Er, damit wendet Er sich von ihr, hat Er sich schon von ihr gewendet; schon mit dem ersten Worte „Weib“ statt „süße Mutter“ beweist Er, daß Er sich von ihr losgelöst hat, daß Seine Seele von ihr frei wird, daß die irdisch menschlichen Gefühle ersterben, daß Er arm wird an natürlichem Gefühl, um sich für die Aufnahme anderer, überirdischer Sohnesgefühle zu bereiten und empfänglich zu machen. Nun hört Er auf, die süße Mutterliebe zu genießen, nun verzichtet Er auch auf den Trost, der Ihn und Seinen Geist so tief erfüllt hat, daß Er in der Weißagung das Bild davon genommen und gesagt hat: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Nicht mehr Seine, sondern Johannis Trösterin soll sie von nun an sein. Alle Schätze dieses mütterlichen Herzens verleiht Er dem Jünger, den Er lieb hat, Er aber bleibt gottesarm, in bitterer Entsagung an Seinem Kreuze hängen, einsamer als einsam, mit Aufgabe jeder Erdenliebe und trinkt in grausiger Nacht, wie einer, dem die Leuchte verlöscht mitten in der Finsternis, die jammervolle Gewisheit hinunter, daß Er um deren willen, für die Er leidet, auch niemand, niemand mehr haben soll, der Ihm zum Troste wäre. Von der Mutter reißt Er sich los, von dem treuen Jünger desgleichen: keine Mutter, kein Freund mehr ist bei Ihm: das tiefe Leid des Absterbens, des Verlierens aller Personen und Dinge, der Vereinsamung, der Trennung, des Todes kommt über ihn, und während Er vor dem zweiten und nach dem zweiten Worte Seine Feinde im liebevollsten Andenken hat und für sie sorgt, unter den grausigen Schächern sichs gefallen