Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze.pdf/82

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gegen die Bedeutsamkeit des Rufes und Augenblickes nichts kleinlicher und widerlicher ausnehmen, als die armen Spottreden welche dadurch hervorgerufen wurden, und die Darreichung des Schwammes mit Essig. Diese Leiden, diese Mückenstiche elender Zungen sind freilich gerade in der Finsternis der ernsten Todesstunde JEsu kaum in Anschlag zu bringen. Ganz andere Lasten lagen auf dem HErrn, so daß er all das leichter hinnehmen konnte. Die Worte, die vom Kreuze so räthselhaft erklangen, sind eine Intonation des 22sten Psalmes, der in der bitteren dunkelen Noth, welche den HErrn umgab und niederdrückte, für ihn besonders geeignet sein und sich zu Seinen augenblicklichen Erfahrungen verhalten mußte, wie eine Erfüllung zu der Weißagung. Wenn wir es auch in dieser Betrachtung nur mit dem ersten Verse zu thun haben, welchen der HErr wörtlich aussprach, so gewährt es doch eine ganz eigene tiefe Befriedigung, und zeigt uns die gesammte Stimmung des Gekreuzigten, die Größe und Tiefe Seiner Gedanken, Sein tiefes Leid, Seine ungebrochene Hoffnung, wenn wir den ganzen zweiundzwanzigsten Psalm in Beziehung auf den HErrn und Seine große Stunde am Kreuz und gewissermaßen in Seinem Namen beten und lesen. Die Worte, welche vom Kreuz erklangen, heißen auf deutsch, euch allen bekannten Tones: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlaßen?“ Da lallen wir denn fürs erste von der Verlaßenheit, der Gottverlaßenheit, dann reden wir zweitens von der Person, die verlaßen ist, und endlich drittens geben wir eine arme Antwort auf die große Frage des HErrn: warum, wir suchen nach der Ursach und der Absicht der Verlaßenheit.