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das Baierische v. J. 1861 (Artikel 214). Das österreichische hatte sich im Jahre 1852 ebenfalls mit 1–5 Jahren schweren Kerkers zufrieden gegeben, eine im Strafgesezentwurf von Ende der siebziger Jahre versuchte Milderung aber zu Gefängnis abgelehnt (Krafft-Ebing, R. von, Lehrbuch der gerichtl. Psychopathologie. 2. Aufl. Stuttgart 1881. S. 236). Der norddeutsche Bundesstrafgesez-Entwurf v. J. 1869 hatte sogar jede strafrechtliche Bestimmung fallen gelassen. Das heutige deutsche, ungarische und schweizerische Gesezbuch bestimt im Allgemeinen nur Gefängnisstrafe, kann also bis auf einen Tag heruntergehen. Eine Petizjon an den deutschen Reichstag um gänzliche Aufhebung jeder strafgesezlichen Bestimmung, an deren Spize der Name des bekanten Kriminalisten Franz von Liszt steht, ist im Gange. Die heutigen Gesezbücher von Italjen, Frankreich und Belgien kennen eine Strafbestimmung gegen Päderastie nicht mehr.[1]

Eine ganz andere Richtung gewinnen wir, wenn wir die ästetisch-psichologische Würdigung verfolgen, welche diese seltsamen Naturen in unserem Jahrhundert gefunden haben. Es ist höchst auffallend, daß die Berührung mit Italjen und mit der italjenischen Renäßanße, wie wir sie schon oben bei Carpzov konstatiren konten, die Kentnis der orjentalischen Sitten und Gebräuche, die Verknüpfung mit der Antike durch die klaßischen Studien, die Beschäftigung mit Sokrates und den anderen griechischen Dichtern und Filosofen, die der „Knabenliebe“, ebenso wie der „Phrynenliebe“, eine pädagogische, übersinliche, rein-geistige Seite abgewannen, die Uebersezungen Anakreontischer Lieder, ja selbst Goethe’s gelegentliche, diesbezügliche Wendungen in den „Venezjanischen Epigrammen“, weder bei den Gebildeten überhaupt, noch bei den Juristen im Spezjellen die geringste Aenderung ihrer Anschauungen zu bewirken im Stande waren. Es mußte Einer jener ganz Kühnen kommen, der unter Preisgebung jeder gesellschaftlichen Stellung, aller Achtung bei seinen juristischen Kollegen, unter Brüskirung von seit Jahrhunderten überlieferten, festgewurzelten Anschauungen – „deßen, was Miljonen heilig ist“, wie heute der technische Ausdruk lautet – die sechsfache Mauer umwarf, die das „schauerliche Geheimnis“, wie es noch in Casper’s „Gerichtlicher Medizin“ heißt, umgab, und vor aller Welt offen, vernünftig und frei redete. Dieser Mann war der Hannoversche Amtsaßeßor Karl Heinrich Ulrichs, der seit 1864 eine große Reihe populär gehaltener Schriften über den Gegenstand herausgab, die großes Aufsehen erregten und zum großen Teil konfiszirt wurden. Er führte den Namen „mann-mänliche Liebe“ ein, wodurch er den ganzen Gegenstand über die rein karnalen Beziehungen hinaushob, und nante die betreffenden Menschen, wol in Anlehnung an F. von Ramdohr’s Buch „Venus Urania“, „Urninge.“ Die zwölf Schriften, die Ulrichs über dieses Tema veröffentlichte, sind heute noch weitaus das Beste, rein-menschlich Liebenswürdigste und wißenschaftlich Tüchtigste, was über den Gegenstand je geschrieben wurde.[2] Ulrichs erklärte gleich von Beginn der ersten Schrift mit offenem Freimut, daß er selbst Urning sei, und schon der ganze Stil mutet als etwas Eigenes, Neues und Ungewohntes an. Richtig ist, daß schon vor Ulrichs einzelne Aerzte wie Casper (Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin, I, 1. Berlin 1852), Tardieu (Annales d’Hygiène, Vol. IX, Paris 1858), und gelegentlich auch filosofische und schönwißenschaftliche


  1. In diesen Ländern war es übrigens nicht so sehr die Einsicht von der Unvermeidlichkeit des Uebels, als die Erkentnis, daß die furchtbaren moralischen Verwüstungen der chantage – der Erpreßungen der mänlichen Prostituirten – schlimmer seien, als das Uebel selbst, welche die Aufhebung der betreffenden gesetzlichen Bestimmungen bewirkten.
  2. Forschungen über das Rätsel der mannmänlichen Liebe von Numa Numantius. „Vincula frango“: – „Vindex“, Sozial-juristische Studien über mannmänliche Geschlechtsliebe von Numa Numantius. Leipzig 1864. – „Inclusa“, Antropologische Studien über mannmänliche Geschlechtsliebe von Numa Numantius. Leipzig 1864. – „Vindicta“, Kampf für Freiheit von Verfolgung von Numa Numantius. Leipzig 1865. – „Formatrix“, Antropologische Studien über urnische Liebe von Numa Numantius. Leipzig 1865. – „Ara spei“, Moralfilososische und sozialfilosofische Studien über urnische Liebe von Numa Numantius. Leipzig 1865. – „Gladius furens“, das Naturrätsel der Urningsliebe und der Irrtum als Gesezgeber von K. H. Ulrichs. Eine Provokazion an den deutschen Juristentag. Als Fortsezung der Schriften von Numa Numantius. Kaßel 1868. – „Memnon“, Die Geschlechtsnatur des mannliebenden Urnings, von K. H. Ulrichs. 2 Abtlgn. Schleiz 1868. – „Incubus“, Urningsliebe und Blutgier, von K. H. Ulrichs. Leipzig 1869. – „Argonauticus“, Zastrow und die Urninge des pietistischen, ultramontanen und freidenkenden Lagers von K. H. Ulrichs. Leipzig 1869. – „Prometheus“, Beitrag zur Erforschung des Naturrätsels des Urningismus und zur Erörterung der sitlichen und gesellschaftlichen Interessen des Urningtums von K. H. Ulrichs. Leipzig 1870. – „Araxes“, Ruf nach Befreiung der Urningsnatur vom Strafgesez von K. H. Ulrichs. Schleiz 1870. – „Critische Pfeile“, Denkschrift über die Bestrafung der Urningsliebe an die Gesezgeber von K. H. Ulrichs. Stuttgart 1879. Die meisten dieser Schriften sind heute vergriffen. In Neudruck erschienen sind die sechs ersten bei Max Spohr in Leipzig. Die Litteratur über homosexuale Geschlechtsliebe ist während der letzten Jahre enorm gestiegen. In Leipzig (bei Max Spohr) erscheint im „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität.“ Auch der von Adolf Brand (Berlin-Neurahnsdorf) Hrsg. „Der Eigene“ beschäftigt sich vorwiegend mit diesen Problemen.
Empfohlene Zitierweise:
Oskar Panizza u. a.: Zürcher Diskußjonen. Zürich, Paris: , 1897–1900, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Z%C3%BCrcher_Disku%C3%9Fjonen_(16%E2%80%9317)_003.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)