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Johannes Bolte (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 19. Jahrgang
Johannes Bolte: Zur Sage vom Traum vom Schatz auf der Brücke — Antti Aarne: Zum Märchen von der Tiersprache

nachdem er seinen Gehorsam auf die Probe gestellt hat. Im türkischen Roman von den vierzig Vezieren[1] wird Numân auf gleiche Art von Kairo nach Damaskus und wieder zurück geschickt. – Dass ein doppelter Traum zwei einander bisher Fremde zusammenführt, kommt auch in andern Erzählungen vor, die nichts mit einer Schatzhebung zu tun haben. So träumen in der Apostelgeschichte 9, 10f. 10, 3. 30 Paulus und Ananias, Petrus und Cornelius von einander; Ähnliches begegnet in Heiligenlegenden, in orientalischen Liebesromanen (R. Köhler, Kl. Schriften 1, 197. Chauvin, Bibl. arabe 5, 132. 205. 6, 104), auch in einer arabischen Erzählung des 869 zu Basra verstorbenen Gâhiz (Beautés et antithèses 88–90), mit der mich die Freundlichkeit von Herrn Prof. V. Chauvin in Lüttich bekannt machte[2].

Es hat sich somit von neuem ergeben, dass neben der schriftlichen Fortpflanzung der Erzählungsstoffe deren mündliche Ausbreitung und Lokalisierung bis auf den heutigen Tag fortdauert. Wir gewahren ferner, dass sich unter unsern deutschen Ortssagen eine orientalische Novelle befindet, der man ihre Herkunft nicht mehr ansieht und die offenbar mit den Heldendichtungen, die sich an die gefeierte Person Karls des Grossen anschlossen, aus Frankreich eingewandert ist. In Frankreich ist sie seither aus dem Gedächtnis des Volkes entschwunden, dagegen hat sie in den Niederlanden, in Deutschland, England, Dänemark wie bei den Čechen Wurzel geschlagen und lebt auch noch in Sizilien fort.

Berlin. Johannes Bolte.


Zum Märchen von der Tiersprache.

Unter den Märchen, die Th. Benfey als Material für eine eingehendere Untersuchung auswählte, befindet sich auch das Märchen von der Tiersprache. Ein Mann lernt die Sprache aller Tiere verstehen, ist aber dem Tode verfallen, wenn er jemandem etwas von seiner Kunst verrät. Die Frau des Mannes erkennt einmal an dessen geheimnisvollem Lächeln, dass etwas in ihm vorgeht, worüber er nicht mit ihr sprechen will, und verlangt selbst auf die Gefahr, dass ihr Mann sein Leben lassen muss, in das Geheimnis eingeweiht zu werden. Der Mann will dem unablässigen Drängen seiner Frau schon nachgeben, als er aus der Unterhaltung zweier Tiere neuen Mut schöpft und sich entschieden weigert, die Neugier der Frau zu befriedigen. In der diesem Märchen gewidmeten Untersuchung (Orient und Occident 2, 133. 1864 = Kleinere Schriften 3, 234) gibt Benfey mehrere ältere literarische Fassungen wieder, von neueren Aufzeichnungen aus dem Volksmund kennt er aber nur zwei: eine serbische und eine afrikanische. Das Sammeln von Volkspoesie steckte damals noch so sehr in den Anfängen,


  1. Übersetzt von Behrnauer 1851 S. 270; vgl. Chauvin, Bibl. arabe 8, 151 nr. 152.
  2. Der Yarbûʻit Nogaiḥ (Maidâni, Proverbes 1, 480: Logaïa) verirrt sich auf der Jagd und trifft einen zerlumpten blinden Schwarzen, vor dem ein Haufe Gold liegt. Wie er danach greift, vermag er seine Hand nicht zu rühren; aber der Blinde verheisst ihm alles, wenn er ihm Saʻd, Ḥaṡrams Sohn, bringe. Nogaiḥ macht sich auf und erhält im Traume Nachricht über den Stamm des Gesuchten. Auch Saʻd hat von Nogaiḥ geträumt; beide treffen sich und wandern zu dem Blinden. Sie finden aber nur das Gold, geraten darüber in Streit, und Nogaiḥ erschlägt den Saʻd. Da stürzt der Blinde, in einen Gûl verwandelt, auf die Leiche und verzehrt sie. Entsetzt flieht Nogaiḥ, das Gold im Stich lassend.
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Johannes Bolte (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 19. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1909, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_19_298.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)