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weniger Raum. Leichter schon verändern sich die Tiermärchen trotz ihrer knappen Geschlossenheit und scharfen Pointierung, doch sind sie immerhin noch weit stabiler, als die lose komponierten, ewig wandelfähigen Zaubermärchen. Rechnet die finnische Methode mit diesem Umstand? Man muss darauf mit einem Ja und einem Nein erwidern. Freilich beruht sie auf sorgfältiger Beobachtung der Veränderungen in den Märchen, aber nur das Stoffliche, das rein Konstruktive interessiert sie daran, nicht das individuell-künstlerische Moment. Sie arbeitet nur mit dem Schema eines Märchens und lässt die Verbindung, die Ausführung, die Haltung, kurz, die Elemente der inneren Form fast unbeachtet. Währenddessen gehn Axel Olrik und ein Teil der deutschen Forscher gerade darauf aus, die künstlerische Formung der Märchen für die Erkenntnis nutzbar zu machen. Ihnen bleibt eines der Hauptprobleme immer dieses: wieweit sind unsere Märchen Kunstprodukte und Schöpfungen eines Einzelnen, und welchen Anteil an ihrer Gestaltung haben der Erzähler und das lauschende Publikum? Die finnischen Forscher dagegen interessieren sich nur wenig für den einzelnen Träger der Überlieferung, den sie hinter dem Stofflichen fast verschwinden lassen. Sie spüren dem Individuellen nicht nach, denn nur das Typische nimmt ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Es hat den Anschein, als stünden sie zu sehr unter dem Eindruck des ungeheuren heimischen, im wesentlichen einheitlichen Materials, um den Eigenheiten der anderen Märchenkomplexe ganz gerecht werden zu können. Bei den Liedern und Märchen Finnlands ist dank der sorgfältigen Sammeltätigkeit die Feststellung wohl möglich geworden, dass eine ‘jede Gegend ihre eigene Sanges- und Erzählart hat’[1], und ähnlich dürften die Verhältnisse auch in Estland liegen, wo die riesigen Hurtschen Sammlungen darüber Aufklärung geben könnten. Für das übrige Europa ist man jedoch entweder auf Vermutungen angewiesen oder nur ganz allgemein orientiert. Lediglich grosse geographisch oder ethnisch geschlossene Komplexe lassen sich hier mit einiger Sicherheit unterscheiden, innerhalb dieser aber nur Erzählerindividualitäten mit bestimmten Stoffinteressen, technischen Ausdrucksmitteln und Ideenkreisen, die man genau kennen müsste, um die ‘Veränderungen’ in den Märchen richtig zu beurteilen.

Die vergleichende Märchenforschung geht bewusst auf diese Dinge nicht ein. Sie arbeitet mit einem so grossen Material, dass sie auf das Studium des vollständigen Märchentextes verzichten muss. Sie behilft sich mit dem nackten Gerüst, den einzelnen stofflichen Zügen, und – der Deutlichkeit halber übertreibend gesagt – sie zählt sie, aber wägt sie kaum. Auf das Häufige, Typische wird das Schwergewicht gelegt, die logisch ungenügenden Abweichungen aber, diese grundlegenden philologischen Merkmale für die Beurteilung der Verwandtschaft, der Herkunft


Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_155.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)