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Die vergleichende Forschung sucht jedoch in die lange Vorgeschichte des Märchens nicht einzudringen, sondern sie begnügt sich damit, Urformen, oder richtiger Urschemata ausfindig zu machen, die in ihrer zuweilen recht auffallenden Blutleere und Unbestimmtheit kaum etwas von individueller, künstlerischer Erfindung verraten. Sie ignoriert im Grunde genommen die Tatsache, dass die Märchen als zusammengesetzte, komplizierte Gebilde auf einfachere Formen zurückgeführt werden müssen, weil sie in ihrem Rahmen sehr verschiedenartige und widerstrebende Elemente enthalten.

Es ist auch missverständlich, wenn Aarne sagt, jeder Märchenzug gehöre ursprünglich zu einem einzigen Märchen[1]. Gewiss ist ein jeder Zug irgendwo zum erstenmal in ein bestimmtes Märchen aufgenommen worden, aber so allgemein verbreitete Motive, wie Drachenkampf, übernatürliche Empfängnis, dankbare Tiere, magische Flucht und viele andere konnten gewiss an verschiedenen Orten, gleichzeitig oder zu verschiedener Zeit unabhängig voneinander in mehreren Märchen auftauchen. Es müssen daher auch spezifische Elemente in zwei Märchen übereinstimmen, wenn von einer Beeinflussung die Rede sein soll, denn stereotype, formelhaft erstarrte Züge, die sich so unendlich oft dort einstellen, wo typische Bilder oder eine günstige Situation ihre Aufnahme nahelegen oder gar erzwingen, sind keine Beweise der Verwandtschaft[2]. Man wird also jeweils genau zu untersuchen haben, ob ein Motiv der Handlung organisch zugehört und ihr eine eigene Note gibt, oder ob es nur ein schmückender, vielleicht bloss Spannung erzeugender Zug ist, der mehr oder minder entbehrlich bleibt.

Der Unterscheidung und Wertung formelhafter und individueller Elemente schenkt die vergleichende Methode auch sonst nicht die Aufmerksamkeit, die sie wohl verdienten, und es kommt daher bisweilen zu Missgriffen in der Rekonstruktion der Urformen. Im indischen Märchen vom Zauberring z. B. erzählen die weitaus meisten Varianten, dass der Ring in das Meer fällt, nur zwölf von ihnen, darunter aber mehrere indische, der Pentamerone und der Siddhi-Kür nennen den Fluss. Aarne begnügt sich mit dem Übergewicht der Zahl als Beweis und rekonstruiert für die Urform das Meer[3]. Er übersieht, dass in zahlreichen Fällen trotz des Meeres ein Krebs, eine Kröte, ein Frosch, eine Otter, sehr häufig ein Hecht usw. beim Heraufholen des Ringes eine Rolle spielen. Alle diese Tiere leben jedoch nur im Süsswasser, worauf Aarne nicht hinweist. Wo liegt nun aber die sekundäre Änderung? Gehört das Süsswassertier und mit ihm der Fluss oder aber das Meer der ursprünglichen Fassung an?


  1. Leitfaden S. 47.
  2. Diese Forderung wird öfter unbeachtet gelassen, so z. B. von Fr. Panzer, Sigfrid S. 176 ff.
  3. Vergleichende Märchenforschungen S. 53.
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_158.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)